»Wehrpflicht weg!« allein bringt wenig

SCHARPINGS REFORM IM NATO-KONTEXT Die kriegstauglich gemachte neue Bundeswehr greift tief in zivile Bereiche der Gesellschaft ein

Rudolf Scharping meinte auf dem Juso-Bundeskongress, leider werde in der Öffentlichkeit hauptsächlich über zwei untergeordnete Fragen der Bundeswehr-Umgestaltung diskutiert, über Wehrpflicht und die zahlenmäßige Größe der Bundeswehr. An diesem Punkt bin ich vollständig einverstanden mit dem »Genossen Kriegsminister«, wie Scharping von einem Juso-Redner in der Debatte betitelt wurde. Die Kernfrage der deutschen Militärpolitik ist nicht die Wehrpflicht und nicht die Mannschaftsstärke der Bundeswehr. Die Kernfrage ist: Soll Krieg Mittel der deutschen Politik sein, ja oder nein?

Sie wurde in der bisherigen Freitag-Debatte erfreulicherweise nur von (SPD) verklausuliert mit Ja beantwortet. Die Debatte zwischen den anderen müsste sich also eigentlich um den Punkt drehen, wie Krieg als Mittel der deutschen Politik ausgeschlossen werden kann. Rudolf Scharping und seinem (neuen) Militärstab ist es ganz recht, dass in der veröffentlichten Meinung über Wehrpflicht und 100.000 bis 340.000 Soldatinnen und Soldaten diskutiert wird. Dann können sie ihre »eigentliche« Arbeit ungestört betreiben, die weitere Effektivierung der Bundeswehr zu einer »Profi-Interventionsarmee« (Die Welt).

Scharping lässt gern über Unwichtigeres diskutieren

Lange Zeit wurde die Bundeswehr eher im Verborgenen Stück für Stück »kriegsführungsfähig« gemacht. Im Oktober 1998, also zu der Zeit, als SPD und Grüne gerade ihre Koalitionsverhandlungen führten und abschlossen, konnte man es der veröffentlichten Meinung und der Basis der neuen Regierungsparteien noch nicht gleich offenlegen, dass demnächst ein Krieg (mit)geführt werden müsse. Für die weiteren Beratungen über die Bundeswehr wurde eine Kommission gegründet, die später den Namen »Gemeinsame Sicherheit und Zukunft der Bundeswehr« trug. Sie tagte von November 1998 bis Mai 2000 unter dem Vorsitz von Alt-Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Die Vorgaben, die der Kommission gemacht wurden, waren klar: Die Bundeswehr soll noch NATO-kompatibler gemacht werden. Um Abrüstung oder ähnliches ging es in der Kommission nie. Das war schon durch ihre personelle Zusammensetzung abgesichert.

Ursprünglich sollte vor weiteren Entscheidungen der Bericht der »Weizsäcker-Kommission« abgewartet werden. Doch dann führte die NATO mit der Zustimmung der alten und neuen Bundesregierung einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien. Deutschland hatte zwar quantitativ einen sehr kleinen Anteil am Bombardement, militärisch gesehen jedoch war die Ausschaltung der jugoslawischen Flugabwehr durch die ECR-Tornados eminent wichtig. Dennoch war die deutsche Regierung mit der Leistung ihrer Bundeswehr im Krieg nicht zufrieden, die deutschen Soldaten bekamen nur die Note Ausreichend. Deshalb wurden erste Vorentscheidungen - auch bezüglich der schwierigen »Heimatfront« getroffen.

Bundeswehr im Krankenhaus. Die Bundeswehr hat während des Jugoslawien-Krieges begonnen, mit ausgewählten Kliniken zivilmilitärisch zusammenzuarbeiten: es gibt einen Austausch von Personal und Material »schon in Friedenszeiten« für die spätere Nutzung bei »Landes- und Bündniseinsätzen«. Festgelegt wurde das in Verträgen zwischen Bundeswehr und ausgewählten Krankenhäusern auf der Grundlage eines von der Deutschen Krankenhausgesellschaft und der Bundeswehrführung erstellten »Muster-Rahmenvertrages». Ziel ist, bei einem »Bündnisfall« (also auch in einem nächsten Kriegsfall) auf zivile Krankenhausstrukturen zurückgreifen zu können. Deshalb werden künftig Bundeswehr-Ärzte in zivilen Krankenhäusern ausgebildet. Umgekehrt ist in Einzelfällen eine Rekrutierung zivilen Personals an Bundeswehrkrankenhäusern geplant. Bei Einstellungsgesprächen werden Ärzte schon heute gefragt, ob sie etwas gegen einen zeitlich begrenzten Einsatz innerhalb von Bundeswehrstrukturen haben.

Bundeswehr und Wirtschaft. Scharping hat entdeckt, dass sich in der ineffektiven Bundeswehr einiges einsparen lässt. So startete er eine umfangreiche Zusammenarbeit zwischen privaten Firmen und der Bundeswehr. »Eine strategische Partnerschaft auf dem Weg in den modernen Staat« sei das. In Teilen der Bundeswehr findet »Outsourcing« und Privatisierung statt. Ein umfangreicher Personalaustausch zwischen Bundeswehr und den beteiligten Firmen ist vorgesehen. Zu den inzwischen 293 Firmen gehören auch solche aus Branchen, die bisher vollständig zivil waren - wieder eine zivilmilitärische Vermischung. Kriegführung wird quasi teilprivatisiert.

Scharping bringt die neue Bundeswehr auf den Punkt mit seiner Aussage: »Viel wahrscheinlicher ist, dass auf dem Territorium anderer Länder deutsche Sicherheit verteidigt werden muss. Dazu braucht man Truppen, die beweglicher, leichter verlegbar, länger und über längere Distanzen versorgbar sein müssen.« Die Veränderung der Bundeswehr wird ganz schnell eingetütet, damit sich kein Widerstand regt. Die Angriffsfähigkeit der Bundeswehr wird strukturell, finanziell und personell abgesichert.

Vorsicht, Fallen

Linke, emanzipatorische Kräfte, Friedensbewegung und kritische Friedensforschung könnten in der derzeitigen Debatte in drei aufgestellte Fallen laufen:

1. Reduzierung ist nicht gleich Abrüstung. Die Reduzierung der Bundeswehr auf 255.000 Mann und Frau ist keine Abrüstung! Aufgrund der Aufstockung der Einsatzkräfte (früher Krisenreaktionskräfte / KRK) ist dies vielmehr eine qualitative Aufrüstung. Stattdessen müsste es darum gehen, die Teile der Bundeswehr abzurüsten, mit denen Krieg geführt werden kann.

2. »Wehrpflicht weg« bringt allein wenig. Die isolierte Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht ist kontraproduktiv. Im Kommissionsbericht war mit der Einführung eines »Auswahlwehrdienstes« das Ende der Wehrpflicht schon eingeläutet. Über kurz oder lang wird es auch zu einer Aussetzung der Wehrpflicht kommen. Gewiss, ihre Abschaffung wäre endlich das Ende eines staatlichen Zwangsdienstes. Jedoch: Wenn nur die Wehrpflicht fällt, aber die Bundeswehr weiter qualitativ aufgerüstet wird, sprich: wenn die Kriegsführungsfähigkeit weiter ausgebaut wird, dann ist dies - wenn auch für die betroffenen Männer individuell zu begrüßen - friedenspolitisch ein enormer Rückschritt. Die Forderung nach Abschaffung der Wehrpflicht muss deshalb immer in den Gesamtkontext gestellt werden. Zentrales Ziel muss sein, die Bundeswehr strukturell angriffsunfähig zu machen. Die zentrale Frage der deutschen Militärpolitik ist nicht die Wehrpflicht, sondern ob eine Interventionsarmee gewünscht wird oder nicht. Ziel muss die Verhinderung einer solchen kriegsfähigen Armee sein.

3. »Beibehaltung der Wehrpflicht als Verhinderungsinstrument gegen Interventionsarmee« ist ein Trugschluss. Aus den eben genannten Feststellungen ziehen manche die Schlussfolgerung, man/frau müsse sich für den Erhalt der Wehrpflicht einsetzen, weil damit eine Interventionsarmee verhindert werden könne. Auch das ist kurzsichtig. Bisher gingen Wehrpflicht und der Ansatz einer Interventionsarmee zusammen. Ein Beibehalten der Wehrpflicht verhindert die Kriegsführungsfähigkeit nicht. Nach wie vor bleibt für die Bundeswehrführung die Wehrpflicht die »beste« Rekrutierungsmöglichkeit von späteren Berufs- und Zeitsoldaten. Deshalb: Pro-Wehrpflicht-Positionen sind kontraproduktiv!

Neue Bundeswehr im globalen Kontext

Die Bundeswehr ist Teil der NATO und sie ist die Armee eines neuen Kernstaates der NATO. Der Aufstieg in die Elite der NATO zu den USA, Frankreich und Großbritannien erfolgte nach dem guten »Vorspiel« gegen Jugoslawien. Die NATO hat sich aber nach dem Krieg gegen Jugoslawien und der Verabschiedung der neuen NATO-Strategie am 24. April 1999 gewandelt.

Die neue NATO-Strategie hat im wesentlichen drei Kernelemente:

- Selbstmandatierung. In der neuen NATO-Strategie wird dazu betont: »In diesem Zusammenhang erinnert das Bündnis an seine späteren Beschlüsse in bezug auf Krisenreaktionseinsätze auf dem Balkan.« Dies zeigt, dass der Jugoslawienkrieg ein Muster war für zukünftige NATO-Kriege und nicht eine »bedauerliche Ausnahme«.

- Interventionismus. Es wurde festgelegt, dass es in Zukunft sogenannte »nicht-Artikel-5-Krisenreaktionseinsätze« geben soll. Artikel 5 des NATO-Statuts gilt dem kollektiven Verteidigungsfall. Künftig wird sich die NATO auch für sogenannte »Nicht-Artikel-5-Einsätze«, also Angriffsaktionen wie gegen Jugoslawien, zuständig fühlen.

- Kampfeinheiten. Durch eine Umstrukturierung der NATO-Armeen sollen noch mehr kleinere, kampforientierte Einheiten (also weitere »Einsatzkräfte«) geschaffen werden.

Die neue NATO-Strategie enthält offensive und völkerrechtswidrige Elemente, bedeutet eine Entmachtung der UNO und die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Kriegsführung der NATO. Eine parlamentarische Beratung hat nie stattgefunden. Warum auch? Politisch wäre die Rücknahme dieser Strategie das Gebot der Stunde. Die NATO ist ein Unsicherheitsbündnis geworden. Sie bedroht mit ihrem Verständnis von »Sicherheit« inzwischen andere Länder. Frieden und Gerechtigkeit sind nur noch gegen die NATO möglich. Deshalb müsste sie aufgelöst werden. Auch wenn dieses Ziel nicht realisierbar scheint, muss es dennoch klar formuliert werden. Durch die kombinierten Forderungen: Rücknahme der neuen Strategie und Auflösung als Ziel wird endlich die überfällige Diskussion über das Unsicherheitsbündnis NATO erzeugt.

Resümee und Ausblick

Die neue NATO-Strategie wird derzeit auf die Bundeswehr durchdekliniert. Die NATO ist ein Interventionsbündnis geworden, die EU ist auf dem Weg zur Militärmacht und die Bundeswehr wird zur Profi-Interventionsarmee. Die durch die neue NATO-Strategie, die EU-Militarisierung und die rot-grüne Vorkriegspolitik veränderte und kriegstauglicher gemachte neue Bundeswehr greift viel weiter in zivile Bereiche der Gesellschaft ein, als das bisher der Fall war. Das Urteil zu Frauen in die Bundeswehr passt hervorragend in die neue Militärkonzeption: Es fehlen der Bundeswehr derzeit Freiwillige - Menschen, die den tödlichen Job machen wollen. Diese Lücke kann nun mit engagierten Frauen aufgefüllt werden. In Zukunft wird es darum gehen, gegen die konkreten Auswirkungen der Militarisierung zu kämpfen: »Bundeswehr und Krankenhäuser«, »Frauen in die Bundeswehr« und »Wirtschaft und Bundeswehr« sind hier Ansatzpunkte.

Tobias Pflüger ist Politikwissenschaftler, Vorstandsmitglied der Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V., Tübingen. Er wurde am 28.06. in einem Prozess wegen »Öffentlicher Aufforderung zur Fahnenflucht« vom Amtsgericht Tübingen freigesprochen, weil der Richter nicht ausschloss, dass der NATO-Angriffskrieg völkerrechtswidrig gewesen sein könnte. Weitere Informationen: http://www.imi-online.de und http://www.tobias-pflueger.de

Die bisherigen Beiträge der Debatte HELM AB!:

Dieter S. Lutz: Stillgestanden! Verena Wohlleben: Notwenige Lebensversicherung Ulrich Cremer: Anti-emanzipatorisches Gewicht Otfried Nassauer: Krieg mit einfacher Mehrheit Michael Jäger: Die Nato in der Nato Ekkehart Krippendorf: Der gutachterlich verkleidete Krieg

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