In dem altertümlichen Palazzo schlägt der Bürgermeister mit der Faust auf den Tisch. Er will eine Mahnwache für die Opfer der Schiffskatastrophe vor Lampedusa abhalten. „Wir müssen zeigen, dass uns das berührt“, sagt Domenico Lucano. „Tränen allein genügen nicht.“
Als Bürgermeister von Riace, einem kleinen Dorf in Kalabrien, bemüht er sich seit zehn Jahren, Asylbewerbern wirklich zu helfen, die ihr Leben bei der Überfahrt in klapprigen Booten aufs Spiel setzen. Jetzt ist man wegen der vielen Toten vor Lampedusa endlich in der gesamten EU auf die Menschen aufmerksam geworden, die jede Woche aus Nordafrika nach Europa flüchten. Wenn diskutiert wird, wie man mit ihnen umgeht, sollte man sich Lucanos Ansiedlungsprogramm als Beispiel ansehen.
Der hyperaktive, ehemalige Lehrer, dem man seine 54 Jahre kaum ansieht, tritt auf den Balkon und schaut auf die verwinkelten Gassen von Riace. Er hat den Ort zu einem „Begrüßungszentrum“ für Einwanderer gemacht. Flüchtlingskinder können hier Italienisch lernen, ihre Eltern finden Arbeit und erhalten Lebensmittelgutscheine, die im örtlichen Einzelhandel eingelöst werden können. „Dieses Gebäude wurde von einer ägyptischen Familie bezogen und das da von einer aus Eritrea“, sagt Lucano stolz und zeigt auf die mit Ziegeln bedeckten Dächer des Dorfes, das für 180 Geflüchtete eine neue Heimat geworden ist.
Neues Leben in alten Häusern
Es begann alles 1998, als 200 kurdische Flüchtlinge an einem Strand in der Nähe von Riace landeten. Statt mitanzusehen, wie sie in eines der düsteren Auffanglager verfrachtet wurden, bot Lucano ihnen Häuser in seinem Dorf an, die aufgrund des Bevölkerungsschwunds leer standen. „Meine Eltern haben mich immer gelehrt, Fremde willkommen zu heißen“, sagt er.
Als weitere Migranten folgten, waren deren Kinder der Grund, dass die örtliche Schule nicht wegen Schülerschwund geschlossen werden musste. Im Kindergarten von Riace treffen heute acht Nationen aufeinander. „Die Integration findet spontan statt. Die ausländischen Kinder sind schlau. Sie lernen schneller als die italienischen“, sagt Anna Niciforo, eine Erzieherin.
„Das Dorf drohte auszusterben. Während des Wirtschaftsbooms zogen alle in den Norden, um dort Arbeit zu finden. Ein Dorf in der Nähe von Turin hat bereits mehr Menschen aus Riace als noch hier wohnen“, fasst Bürgermeister Lucano sein Problem zusammen. Die Flüchtlinge waren die Lösung. Lucano beschreibt die Italiener, die mit ihm zusammenarbeiten, als „potenzielle Auswanderer“, die dank des Zuzugs der Asylbewerber bleiben konnten. 25 bis 30 Euro bekommt Riace pro aufgenommenem Flüchtling von der Regierung gezahlt. Mit ein Grund, geben Einheimische zu, warum die Asylbewerber hier freundlich aufgenommen werden.
Die 31-jährige Äthiopierin Lemlem Tesfahun arbeitet heute als Übersetzerin. Sie erinnert sich, wie Lucano sie vor zehn Jahren aus einem Flüchtlingslager holte. „Es war dort wie im Gefängnis. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich war, und schrie jeden Tag, dass sie mich entlassen sollen.“
Mit der finanziellen Hilfe sind Künstlerwerkstätten entstanden, in denen Einwanderer etwas verdienen und Berufe erlernen, die vom Aussterben bedroht sind. Beim Glaser konzentriert sich etwa eine Afghanin auf ein Glasmosaik, während gegenüber in einer Stickerei die Nigerianerin Tayo Amoo mit den Tricks des Handwerks vertraut gemacht wird. Die Frau, die sie anleitet, erlernte diese Kunst ursprünglich von den im Ort ansässigen Nonnen. Amoo hat in Nigeria als Journalistin gearbeitet und wurde wegen des Vorwurfes, sie habe den Islam beleidigt, inhaftiert. 2010 floh sie nach Italien, 2012 bekam sie Asyl.
Oder der Ghanaer Daniel Yaboah. Er kriegt 800 Euro im Monat dafür, dass er sich um die Esel kümmert, die die Karren durch die Gassen von Riace ziehen, auf denen Hausmüll eingesammelt wird.
Während Lucano momentan darauf wartet, dass ihm die Regierung auch einige der 155 Überlebenden der Katastrophe vor Lampedusa schickt, ist eine Gruppe von Eritreern eingetroffen, die im vergangenen Monat in Sizilien an Land ging. Auch bei dieser Landung sind 13 Menschen ertrunken. „Sie haben uns hier alles gegeben“, sagt der 46-jährige Fasil Hidad. Er hatte Frau und Kinder in Eritrea zurückgelassen, um nicht in die Armee eingezogen zu werden. 7.400 Dollar hat er für die Odyssee durch die Wüste und über das Meer bezahlt. Jetzt hofft er, bald hier Arbeit zu finden.
Ärger mit der Mafia
Lucanos Mission verschafft ihm auch Feinde: Offenbar verärgert über den wachsenden Einfluss des Bürgermeisters, schoss die kalabrische Mafia 2009 durch die Fenster eines Lokals, in dem er gerade aß. Und sie vergifteten zwei seiner Hunde.
Im vergangenen Jahr stoppte dann ein bürokratischer Fehler zeitweilig die Finanzierung für das Eingliederungsprojekt. Die Ladeninhaber nahmen die Gutscheine der Einwanderer nicht mehr an. Als die Mütter keine Milch mehr für ihre Kinder bekamen, blockierten Flüchtlinge die Autobahn und kippten Mülltonnen aus. Lucano drohte mit Hungerstreik. Die Finanzierung wurde wieder freigegeben.
Doch selbst wenn alles reibungslos läuft, entschließen sich viele Migranten weiterzuziehen, sobald ihr Asylantrag angenommen wird. „In Italien gibt es keine Perspektive. Ich muss in die Niederlande, um mein Tiermedizinstudium fortzusetzen“, sagt eine junge Eritreerin.
Es gibt auch Ausnahmen. Bahram Acar ist einer der Kurden, die mit dem ersten Schiff kamen. Man habe ihm hier geholfen, einen Job auf dem Bau zu finden, eine Familie zu gründen, die italienische Staatsangehörigkeit anzunehmen, sagt er. 15 Jahre nach seiner Ankunft hilft er nun Neuankömmlingen bei der Eingewöhnung. „Mit mir hat alles angefangen. Mir wurde geholfen, jetzt helfe ich.“
Tom Kington schreibt für den Observer
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