Mit Katrin Krabbe auf Kreta

Faction Sie war in Superform, ich war in Superform. Sie glaubte an ihre Lügen, ich glaubte an meine Lügen. Der Wachtraum eines Journalisten

So große Tage, damals in Berlin: Deutschland in der Schwebe. Eine Krise des Realen. Ein Mahlstrom der Irritationen. Ein Staat im freien Fall. Eine freie Stadt im Halbdunkeln. Es war morgens um sieben in der Mansteinstraße, ein Barmann namens „Replikant“ hatte uns gerade erklärt, das Ex Pop sei jetzt geschlossen. Zurück bei mir im fünften Stock der Yorckstraße 48 war die Stimme eines Herrn Dr. Funk des Gruner auf dem Telefonbeantworter: „Schon mal was von der Katrin Krabbe gehört?“ Dr. Funk sagte dann noch: „Das Sinnbild für die Wiedervereinigung des deutschen Sports“.

Funk war mal Spiegel-Chef gewesen und jetzt Boss eines teuren Sportmagazins. Er setzte mich mit der Begründung auf den Fall an, meine Stories hätten „etwas Ambivalentes“. Also passend, um eine tiefere Wahrheit zum Thema Katrin Krabbe und Doping aufzuspüren. Und er dachte wohl an gewisse Parallelen: Der Osten war stolz, Weltklasse-Leichtathleten in die Vereinigung einzubringen. Ich machte mich gerade daran, die wiedervereinigte Medienlandschaft mit „Faction“ aufzupimpen.

519 Medaillen holte die DDR bei Olympischen Spielen. Und Kanzler Kohl sprach sich längst für die Aufrechterhaltung des hohen Niveaus des DDR-Sports aus. Gleichzeitig lief zu jener Zeit ein historischer Wettlauf um die Wahrheit. Anabolikapillen wurden vernichtet, brisante Aufzeichnungen über den Staatsplan 14.25 – der Dopingplan der DDR – tauchten auf. Für Wochen wurde die Gruppe Krabbe, Springstein und Grit Breuer als „untergetaucht“ gemeldet. Bis Dr. Funk an einem Morgen auf mein Band spricht. Er kenne das geheime Trainingslager des Fräuleinwunders: Kreta.

Ambivalenter Auftrag, ambivalente Tage in Deutschland. In Kreta empfängt mich eine staubige Welt. Als ich bei der Landung der Lufthansa-Maschine das Recherchepaket des G durchgelesen hatte, wusste ich nicht viel mehr – außer dieser seltsamen Meldungen eines IM namens Alexander: „Bei Katrin Krabbe sehe ich echt Probleme. Sie hat einen leichten nymphomanischen Einschlag.“

Ein unmögliches Abenteuer

Dr. Funk konnte mir keine genaueren Angaben über Krabbes Hotel machen, er wollte aber – wie alle Chefredakteure damals – dass ich die Insel nach dem Hoffnungsträger der deutschen Leichtathletik „bis ins hinterste Nest absuche“, egal was es kostet. Auf menschenleeren, sandigen Straßen fühlte ich mich ein wenig wie auf Suche nach der Verschollenen in Antonionis Film L’ avventura. Von der ersten Taximinute an herrschte auf Kreta Ausnahmezustand in meinem Kopf. Meine Lust am Falschen, ob nun selber echt oder falsch, stellte sich einmal mehr als ein mächtiger Antrieb heraus: Nichts ist, wie es scheint. Fantastische Tage: Es bahnte sich ein unmögliches Abenteuer mit Grit Breuer, Thomas Springstein und Katrin Krabbe an. Mein Informant und Taxifahrer hatte kein Problem, das Hotel der gesamtdeutschen Hoffnungsträger zu finden. Es befand sich auf der Südseite der Insel, alle redeten vom „Fräuleinwunder“ aus Deutschland, das dort trainierte, wo bedrohliche Felsenlandschaft eine perfekte Kulisse abgaben. Das Hotel stand direkt an der schäumenden Brandung des Mittelmeers, so wie ich es mir vielleicht am Ende eines Romans von Patricia Highsmith erträumte. Felsige Küstenlandschaft, leere Terrasse mit weiß gekleideten Hotelangestellten und einer Leichtathletikanlage, keine zwei Kilometer entfernt.

Jeder kennt das, wie man anfängt, seinen eigenen Täuschungen zu glauben, nicht durch Beweis, sondern durch reine Wiederholung. So macht es der talentierte Mister Ripley und kommt unglaublich weit damit. Katrin Krabbe kam unglaublich weit damit. (Ich kam eine Weile auch weit damit).

Sie hatte damals etwas unfassbar Unvollendetes. Sie war blond, sie war schön, sie war in erster Linie deutsch, sie hatte lange Beine, und ihr war die Lust am Falschen ins Gesicht geschrieben – wie gemacht für den gesamtdeutschen Star. Bei der Europameisterschaft in Split hatte sie dreimal Gold gewonnen: über 100 und 200 Meter, außerdem mit der 4-mal-100-Meter-Staffel. Sie war in Superform, ich war in Superform.

Ich dachte täglich über so ungesunde Dinge wie „Realitätssteigerung durch Entfesselung der Fiktion“ nach. Katrin hatte ihre ­Pillen und trainierte immer öfter im Geheimen, von Paranoia und Erwar­tungs­hal­tung gefoltert. Ihr Misstrauen den eigenen Gefühlen gegenüber führte zu einer Art seelischen Anästhesie. Dank angststeigernder Affektlosigkeit konnte ihr Guru Thomas Springstein mit Training und Trainingsmethoden zu neuen Ufern gelangen. Sie schluckte und spritzte mit gutem Gewissen. Stoische Entmenschlichung war erklärtes Ziel.

Als sich dann an jenem ersten Abend, im Licht der untergehenden Sonne an der Strandbar unser Augen trafen, sah ich eine extrem müde Frau. Es war aber nicht Trainingsmüdigkeit. Es war die totale Lebensmüdigkeit.

Sie saß in unbequemer Stellung und las ein Buch, das sie mit beiden Händen festhalten musste. Sie hatte mich nur eine Sekunde angesehen, aber ich konnte den Blick nicht von ihr wenden. Ich hätte so gerne mit ihr gesprochen. Ich studierte sie genau. Sie trug einen Trainingsanzug von Puma und Puma-Sportschuhe. Das eine Handgelenk umspannte ein goldenes Armband. Ich war gespannt auf ihre Stimme, ihr Lachen, ihren Akzent, freute mich auf den Anblick ihrer schönen Zähne. Aber ich war damals eher ein zugeknöpfter, scheuer 26-Jähriger, das lag an meiner Erziehung, Schweizer Mittelschicht. Ich hätte mir nichts dabei gedacht, jemanden aufzureißen, wenn ich in einer entsprechenden Bar gesessen hätte, in die man eigens deswegen geht. Aber eine Hoffnungsträgerin des neuen Deutschlands in einem fremden Land, die in ein Buch vertieft war und lebensmüde Augen hatte? Sie war ja bestimmt nur für einige Minuten allein, gleich würde dieser Springstein auftauchen und sie von mir abschirmen. Außerdem ging es mir nicht ums Aufreißen.

Ein Hotelangestellter kam an die Strandtheke, sah sich um, trat zu Katrin und sagte sehr leise etwas zu ihr. Ich bekam nur das Wort „Anruf“ mit. Sie rutschte wortlos von ihrem Barhocker und folgte ihm. Das Buch ließ sie aufgeschlagen auf der Theke liegen. Demnach wollte sie wiederkommen. Plötzlich war der Barkeeper wieder da, und ich bestellte noch ein Bier. Wer mochte sie angerufen haben? Springstein? IM Alexander? Ihre Mutter? Bundeskanzler Kohl? Ich hatte auf die Uhr gesehen, als sie ging, da war es 20 nach sechs gewesen. Um 18 Uhr 25 und um 18 Uhr 32 sah ich wieder auf die Uhr. Es war ein sehr langes Gespräch.

Um Viertel vor sieben war klar, dass sie nicht wiederkommen würde. Das Buch hatte sie vergessen. Jemand hatte sie angerufen und womöglich vor mir gewarnt. Ich blieb allein mit der schäumenden, kretischen Brandung. Ich ging an die Theke und griff mir das Buch von Katrin Krabbe. Es war Saltykow-Schtschedrins Die Herren Golowljow. Nicht gerade ein Bestseller, unbestritten aber eine intellektuelle Herausforderung. Ich nahm das Buch mit. Vielleicht enthielt es Geheimnisse. Unterstrichene Worte. Codeworte! Auf dem hinteren Einband klebte das Etikett einer Buchhandlung in Neubrandenburg.

Sie blieb die ganze Nacht

Zwei Tage später spitzte sich meine Story um das Fräuleinwunder zu. Katrin blieb die ganze Nacht bei mir, nur einmal ging sie nach unten, zum Abendessen mit ihrem Team. Es war ein unmögliches Abendessen. Ich hielt unter dem Tisch ihre Hände, wir drückten die Knie aneinander, dann schob ich meine Beine zwischen ihre, und weil wir den Tisch zwischen uns nicht mehr ertragen konnten, setzte ich mich dicht neben sie, so dass unsere Körper sich berührten. Springstein schwieg. Grit Breuer grinste blöd. Katrins warme, lebendige Nähe, die ganze physische Katrin war so aufregend, dass ich das Warten kaum ertragen konnte. Ich zitterte, während ich ihre Hände hielt. Dabei musste ich an die Worte von Bundeskanzler Kohl denken: gesamtdeutsche Mädchen – Sinnbilder für die Widervereinigung des deutschen Sports! Mir war schon damals klar: Es entstehen fiktive Staaten, fiktive Olympiasieger, fiktive Körper – Fiktionen beherrschen die Politik ebenso wie die Wissenschaft, aber sie werden selten entdeckt und zur Debatte gestellt.

Drei Tage später hatten Katrin und ich im Dunkel ihres Hotelzimmers miteinander geschlafen, die schweren Vorhänge zugezogen, begleitet vom Lärm der Brandung im Süden Kretas. Es war ein undramatischer Akt, eine Folge von Konventionen und Inszenierungen, wie man es von Replikanten, ambivalenten Borderline-Charakteren oder künstlich manipulierten Körper nicht anders erwarten würde. An der Digitaluhr auf der Hotelkommode las ich ab, dass das Ganze neun Minuten gedauert hatte, von Anfang bis Ende.

Als wir danach im Dunkeln nebeneinander lagen und auf die weiße Decke starrten, überlegten Katrin und ich, was wir sagen sollten. Jeder wusste, dass der andere nach einem optimistischen, in die Zukunft weisenden Thema suchte, das die Zeit des Umherstreifens, Manipulierens und der sinnlosen Selbstzerstörung überwand. „Bist du müde? Du musst ziemlich erschöpft sein von deinem Training“, sagte ich idiotisch. Katrin streckte die Hand aus und streichelte meine Brust. „Schlaf ein“, sagte sie. „Morgen fühlst du dich besser“.

Tom Kummer sorgte 2000 für einen Medienskandal, als öffentlich wurde, dass seine Interviews mit Prominenten wie Sharon Stone und Mike Tyson erfunden waren. Ende Oktober kommt dazu der Dokumentarfilm Bad Boy Kummer in die Kinos.

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