Unser Autor Tom Mustroph hat ein Faible für exotische Freiluftaktivitäten. In loser Folge berichtet er vom Sommer, von Bällen und Ballspielen aller Art.
Jeden Mittwochabend ist die zum Hansa-Viertel auslaufende Wiese am nordwestlichen Zipfel des Berliner Tiergartens australischer Sektor. Kurz vor 18 Uhr treffen sich rund sechs Männer, darunter mehrere vom fünften Kontinent, am Fuße einer vierstämmigen Linde. Sie lehnen ihre Fahrräder an die Stämme und hängen Jacken, Pullover und Hosen ins Geäst. Dann werfen sie sich in lockere Freizeitkleidung und einen eiförmigen Ball in die Luft. Es ist Zeit für eine Trainingsstunde Australian Football.
Die exotische Sportart hat vom Cricket die weite eiförmige Spielfläche, vom Am
ielfläche, vom American Football das lederne Ei und vom Rugby die Dynamik. Sie wurde vor circa 150 Jahren in Melbourne vom Cricketspieler Thomas Wills "erfunden". Der hielt das Spiel für ein gutes Fitnesstraining in der Winterzeit. Von Melbourne aus eroberte Australian-Rules-Football den Bundesstaat Victoria und wird heute bis nach Brisbane und Sydney in Amateur- und Profiligen betrieben. Extra Stadien wurden gebaut, mit Flutlicht und allem. Im Tiergarten stehen nur Bäume. Und in denen hängen keine Scheinwerfer. Deshalb nutzen Stefan Stefan, Johannes, Matthew und Ken die zwei Stunden bis zur Dämmerung ausgiebig. Sie sind so gut wie allein. Kein Mensch besucht das benachbarte Gotteshaus in der Händelallee. Die Griller okkupieren gewöhnlich die größeren Wiesen jenseits der Straße des 17. Juni. Lediglich ein paar Spaziergänger kommen vorbei und schauen kurz zu, wie das lederne Ei gefaustet, gefangen und mit dem Fuß weggekickt wird. Manche setzen sich auf die ringsum stehenden Parkbänke. Sie sehen, wie die Spieler hasengleich Haken auf dem Rasen schlagen und nach dem Ball rufen. Manchmal fällt das Ei aber auch herunter. Weil es so unregelmäßig geformt ist und die Wiese alles andere als eben, kann es passieren, dass es in possierlichen Sprüngen über das Grün hoppelt und immer wieder den hinterherjagenden Spieler narrt. Das belustigt das Publikum. Die Spieler regt es nicht besonders auf. Schließlich haben zwei von ihnen erst in diesem Frühjahr mit Australian Football angefangen. Matthew und Ken, die beiden Australier, kennen dagegen das Spiel so, wie unsereins Fußball kennt. Kein noch so danebengeratener Pass kann sie schrecken; sie hetzen dem Leder auch Dutzende Meter hinterher und bekommen es fast immer irgendwie zu fassen. Wenn dann noch einer aus dem Team am Ende des Spielfelds den Ball hoch in die Bäume und über den angrenzenden Weg drischt, schickt der lange Ken einen Schrei der Freude hinterher. Der uneingeweihte Beobachter darf nun annehmen, das Ziel sei erreicht. Sechs Punkte zählt im regulären Spiel ein Goal. Reguläre Spiele im Australian Football gibt es in Deutschland aber selten. Nur drei Mannschaften existieren, in München, in Frankfurt/Main und hier in Berlin. Ohne den aus Frankfurt stammenden Johannes Junius gäbe es überhaupt nur zwei. Weil der wegen seines Geografie- und Physik-Studiums nach Berlin musste, sein exotisches Hobby aber nicht aufgeben wollte, suchte er Mitspieler und gründete die Berlin Crocodiles. Schnell fanden sich ein paar in Berlin verstreute Aussies. Sie brachten die Bälle mit (jeder richtige Australier hat seinen eigenen, meint Johannes) und das Knowhow. Zwar ist Australian Football nicht schwer, aber auch IKEA-Regale baut man besser nicht allein nach Anleitung auf; man versichert sich lieber der Hilfe eines bereits Erfahrenen. Das Fausten und Kicken hat man - selbst unter Bedrängnis - schnell heraus. Komplizierter sind aber schon die Spielzüge. Laufwege werden verabredet. Jeder muss auch ohne Ball ständig in Bewegung sein. Das hält fit, ist aber auch pure Notwendigkeit. Nur 12 Meter darf man mit dem Ball in der Hand laufen, dann muss man ihn abgeben. Im Spiel kommt man selten soweit; allein der ballführende Spieler darf zwischen Knie und Schulter angegriffen werden. Und das geschieht schnell. Wenn einer dann am Boden liegen bleibt, wird weiter gespielt. Eine Unterbrechung wegen eines Fouls kennt Australian Football nicht. Ist eben nichts für Fußball spielende Weicheier. Leider kommt es nur selten zu Spielen. Wie gesagt, in Deutschland gibt es nur drei Mannschaften. Und auch die haben bisher nie die reguläre Stärke von jeweils 18 Mann erreicht. Wenn man 12 gegen 12 spielt, ist das schon viel. Deshalb gingen die Crocodiles im Juni auf Dänemark-Tournee. Im kleinen Nachbarland soll es immerhin acht Teams und einen regelmäßigen Spielbetrieb geben. Mehr Mitspieler wünschen sich die Crocodiles nicht nur, um endlich eine komplette Mannschaft zu haben. Auf ihrem sonntäglichen Trainingsplatz im Treptower Park müssen sie vor jedem Spiel die von Hunden gebuddelten Löcher wieder zuschütten. Jede helfende Hand ist da willkommen.