Vor einem Jahr waren die Augen der Welt auf Catania gerichtet. Die Gewaltwelle im italienischen Fußball hatte ihren Höhepunkt erreicht. Bei Ausschreitungen am Rande des Sizilien-Derbys Catania - Palermo war Anfang Februar 2007 der Polizeiinspektor Filippo Raciti getötet worden. Die Schlacht vor dem Stadion prägte die Titelseiten. Auf die Kampfschreie der Ultras - noch Tage feierten die Hooligans den Tod des Polizisten - folgte der Aufschrei der Bevölkerung.
Seit dem 2. September 2007, dem Tag, an dem die catanesischen Fans nach halbjähriger Geisterspielzeit wieder ins Stadion durften, wird der Platz davor jeden zweiten Sonntag geräumt. Die Tore sind geschlossen, Polizei steht bereit und hält die Kampfbahn, auf der ihr Kollege ums Leben kam, unter absoluter Kontrolle. Den Vorplatz darf nur betreten, wer ein gültiges Ticket bereit hält. Am Stadiontor selbst sind Drehgitter installiert, die man nur einzeln passieren darf. Und das nur, wenn der Automat das Billett als gültig erkennt. Erwerben muss man sie im Vorverkauf gegen Vorlage des Ausweises. So soll verhindert werden, dass Hooligans mit Stadionverbot in die Arena kommen. Tatsächlich durchgesetzt wird das Stadionverbot freilich nur bei Fans, die der Auflage nachkommen müssen, sich zum Zeitpunkt eines Spiels auf ihrer Polizeiwache zu melden.
Kein Traum für Schwiegermütter
Im Stadion selbst sind mehrere Dutzend Videokameras angebracht. Sie sollen abschrecken und im Falle neuer Gewaltausbrüche Beweismaterial zur Verfügung stellen, eine Lehre aus dem Tod von Filippo Raciti. Denn es existieren nur wenige Aufnahmen, mit denen sich die Vorgänge vor Jahresfrist restlos aufklären lassen, so dass eine Verurteilung der Täter in weiter Ferne steht. Zwar wurden 40 Ultras aus Catania in den ersten 48 Stunden nach der Tat festgenommen, unter ihnen der damalige Platzwart des Stadions, der für freien Eintritt einzelner Hooligans gesorgt hatte, sowie ein Funktionär der rechtsextremen Partei Forza Nuova. Doch inzwischen befinden sich alle wieder auf freiem Fuß, einige mit Auflagen. Gegen den einstigen Platzwart wurde inzwischen gar das Stadionverbot aufgehoben.
Lediglich Antonino Speziale wird nicht so gut wegkommen. Der zur Tatzeit 17-Jährige muss sich derzeit vor Gericht wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt im schweren Fall verantworten. Ihm drohen drei Jahre und vier Monate Haft. Das Verfahren wegen Totschlags soll nach Auskunft von Staatsanwalt Ignazio Fonzo möglichst bald eröffnet werden. Die Anklage sieht es als erwiesen an, dass Speziale jenen Schlag führte, der zum Leberriss und späteren Tod Racitis führte. "Die Rekonstruktion des Tathergangs durch unsere Experten hat zu diesem Resultat geführt", so Fonzo.
Verteidiger Giuseppe Lipera hält die Vorwürfe dagegen für unbegründet. "Das Beweismaterial reicht nicht aus", erklärt er am Telefon. Sein Klient, ein bulliger Typ, der vom Aussehen her mitnichten in die Kategorie Traum für Schwiegermütter passt, ist weiterhin in Gewahrsam. Bei einem Haftprüfungstermin meinte das Gericht, Speziale sei auch im Gefängnis als Gewalttäter aufgefallen. Es könne nicht garantiert werden, dass seine Familie mäßigenden Einfluss auf ihn ausübe. Anwalt Lipera ist - wohl nicht ganz zu Unrecht - empört: "In keinem Rechtsstaat wird man wegen eines solchen Delikts so lange in Untersuchungshaft gehalten!" Nur zu Weihnachten durfte Speziale für einige Tage zu seiner Familie und hatte zuvor erklärt, er wolle mit Fußball nichts mehr zu tun haben.
Radikaler als das Leben der Familie Speziale veränderte sich das der Familie Raciti. Der neunjährige Alessio und die 16-jährige Fabiana vermissen ihren Vater. "Niemand kann ihn für sie ersetzen", sagt Roberto Latino. Der 29-Jährige gehörte zu jener Zehner-Gruppe der Polizei, die Filippo Raciti bis vor einem Jahr geführt hatte. Sie war jedes Wochenende in Fußballstadien im Einsatz. Wenn nicht in Catania, dann in Messina, Palermo oder Reggio Calabria. Raciti galt als Hooligan-Experte. "Wenn jemand wissen konnte, was zu tun war, dann Filippo", erinnert sich Latino. Am Strand von Catania, an dem sich die Beamten ein Stück abgesteckt haben, um Katastropheneinsätze bei Erdbeben, Feuersbrünsten oder Vulkanausbrüchen zu trainieren, erzählt er, mit Raciti auch über den Dienst hinaus befreundet gewesen zu sein. "Filippo war mein Mentor, als ich frisch von der Polizeischule nach Catania kam."
Mal als Täter, mal als Opfer
Weil sie in direkter Nachbarschaft wohnten, hatten sie sich an jenem 2. Februar zur gemeinsamen Heimfahrt nach dem Spiel verabredet. "Wir kamen oft mit blutenden Wunden nach Hause, aber dass einer von einem Fußballspiel nie mehr zurückkehrt, das gab es noch nicht." Latino sucht den Schutz seiner Sonnenbrille, als er über den Verlust seines Freundes spricht. Nach dessen Tod habe er sich in eine andere Abteilung versetzen lassen. Das Stadion meide er bis heute, sowohl im Dienst als auch in der Freizeit. "Früher habe ich im Fernsehen kaum ein wichtiges Spiel ausgelassen. Jetzt sehe ich Fußball nur dann, wenn es gerade passt. Vielleicht gehe ich mit meinen Söhnen wieder ins Stadion, wenn sie größer sind."
Momentan unterstützt Latino Marisa Grasso, die Witwe Racitis. Sie sind weiter Nachbarn und noch enger zusammengerückt. Kurz vor dem ersten Todestag ihres Mannes musste Marisa den Tod ihres Vaters verkraften. Sie ist eine starke Frau, tritt oft in Schulen auf, um über Gewalt zu sprechen und dagegen zu sensibilisieren. "Es hat sich in der Welt des Fußballs nichts geändert", klagt sie angesichts der Ausschreitungen beim jüngsten Derby Catania - Palermo. Weil ihnen andere Gegner fehlten, stürzten sich einige Catania-Fans auf den gegnerischen Mannschaftsbus und bewarfen ihn mit Eiern und Tomaten.
Die staatliche Kommission über die Sicherheit in den Stadien notierte für die ersten vier Monate der italienischen Meisterschaft bisher 16 schwere Vorfälle. In vier von ihnen waren Fans aus Catania verwickelt, einmal als Täter, wie beim Spiel gegen Palermo, einmal als Opfer, wie vor zwei Wochen in Rom. Da hatten römische Fans auf drei ihrer "Gegner" eingestochen.
Im Stadion Massimino von Catania herrscht heute manchmal eine Fußballatmosphäre wie aus dem Bilderbuch. Es fliegen keine Gegenstände mehr auf das Spielfeld. Keine Raketen werden gezündet. Dass die Lage nicht völlig normalisiert ist, zeigt ein Blick auf den Gästeblock. Unter einem dichtmaschigen Netz drängen sich die Fans der Gastmannschaften. Das Geflecht soll vor Wurfgeschossen schützen, bewirkt aber auch, dass die Beschützten wie wilde Tiere wirken, die im nächsten Moment in den Zirkus gelassen werden.
Die Gewalt in Catania habe abgenommen, glauben Polizist Latino und Jurist Fonzo. Der Staatsanwalt, inzwischen nach Rom berufen, bezeichnet Catania im landesweiten Vergleich sogar als eher positives Beispiel. "Nur eine Minderheit der Fans ist noch gewaltbereit. Doch leider hat diese Minderheit einen Einfluss auf andere", meint Latino. "Es gibt nicht den typischen Hooligan. Es sind Alte und Junge, Arme und Bessergestellte. Die Woche über sind sie meist unauffällig - am Sonntag, in der Gruppe, verwandeln sie sich und lassen alles heraus, was sie bis dahin in sich zügeln mussten."
Diesen emotionalen Sprengstoff machen sich extreme politische und kriminelle Gruppen zu nutze. "Es hat Versuche eines Exponenten der Cosa Nostra gegeben, auf einen Teil der Fans aus Catania Einfluss zu nehmen", meint Fonzo. Gerichtsverwertbare Hinweise seien daraus jedoch nicht erwachsen. Die Festnahme eines Mannes der Forza Nuova wegen der Beteiligung an den Ausschreitungen vom Februar 2007 weise auf eine Nähe zwischen Hooligans und Rechtsradikalen hin. Wie stark sich das Gewaltpotential des Fußballs tatsächlich in politischem Extremismus oder organisierter Kriminalität spiegelt, ist in Catania bislang nicht erkennbar.
Wie ein Gang ins Kino
Das Gewaltproblem bleibt zuallererst ein Gewaltproblem. Es kann nicht befriedigend mit dem Einwirken bestimmter Gruppen erklärt werden. Polizist Latino sieht ein Versagen der Familien, die keinerlei Werte mehr zu vermitteln hätten. "Erst wenn die friedlichen Fans mit der Polizei kooperieren, kann sich das dauerhaft ändern", ist er überzeugt. Auch eine Privatisierung der Stadien hätte eine positive Wirkung: Die Clubs besäßen Eigentum. Sie müssten selbst für Sicherheit sorgen. Sie würden die Stadien auch die Woche über nutzen. Fußball in der Entertainment- und Shopping-Mall also.
Fonzos Idealvorstellung vom Fußball als Unterhaltung ist von diesem Bild nicht weit entfernt: "Der Stadionbesuch sollte wie ein Gang ins Kino sein: Ganze Familien unternehmen ihn, ohne Angst und ohne aufwändige Sicherheitsmaßnahmen."
Ein Jahr nach dem Tod von Filippo Raciti hält eine Mehrheit in Catania die Ausschreitungen für ein Thema von gestern. Alle Bemühungen, das Stadion oder wenigstens eine Straße nach Filippo Raciti zu benennen, sind gescheitert. In Norditalien ist dies geschehen. In Brescia wurde eine Tribüne im Stadion nach Raciti benannt - im Massimino von Catania hingegen klebt noch ein Jahr nach seinem Tod nur ein kleines Schild des Komitees 2. Februar an einem Stadiontor - so hoch, dass es niemand herunter reißen, aber auch kaum jemand lesen kann. Anlässlich des ersten Todestages wird schließlich eine Statue Racitis im Stadion aufgestellt und bei einem Gedenkgottesdienst in der Kathedrale seiner gedacht.
Aber Marisa Grasso ist irritiert. Der Bischof nutzt die Gelegenheit, an "die Leiden" des mutmaßlichen Totschlägers Antonino Speziale zu erinnern und um Vergebung zu bitten. "Ich dachte, der Gottesdienst sollte allein Filippo gewidmet sein", seufzt Marisa. Zur Vergebung sehe sie sich nicht in der Lage. "Der Tod wiegt zu schwer."
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