Die Katen der Paten

In den sizilianischen Bergen Die Stadt Corleone will eine Straße nach dem 11. April 2006 benennen

Corleone, drei Wochen nach der Verhaftung von Mafia-Boss Bernardo Provenzano am 11. April. Welthauptstadt der Nachrichten war die Kleinstadt in den sizilianischen Bergen für wenige Tage. Sie hatte Rom verdrängt - New York, Moskau, Washington, Paris. Selbst Bagdad war für einen Augenblick nur zweite Wahl auf dem globalen Nachrichten-Markt. Und jetzt?

Corleone schafft es noch immer, mit einigermaßen bizarren Neuigkeiten zumindest in den nationalen Medien präsent zu sein. So haben die Ermittler in der Korrespondenz des letzten großen Paten der Cosa Nostra Hinweise darauf gefunden, dass die Geheimorganisation sich am Bau einer Verlängerung der Stadtbahn von Palermo in die Mafia-Hochburg Brancaccio beteiligen wollte: Etat 623 Millionen Euro. Die lokalen Mafiagrößen Salvatore und Sandro Lo Piccolo hatten - obwohl selbst seit 23 beziehungsweise elf Jahren per Haftbefehl gesucht - den 43 Jahre lang auf der Flucht befindlichen Bernardo Provenzano auf diesen Geldsegen aufmerksam gemacht und bereits erste Claims abgesteckt. Gleichfalls entdeckte die Polizei ein Aufspürgerät für Wanzen, auf das der Grand Chef besonders stolz gewesen sein soll, und Audiokassetten mit Aufnahmen von Julio Iglesias und einigen in die Jahre gekommenen italienischen Popstars. Einer von ihnen, Mario Merola, zeigte sich im Interview mit dem Giornale di Sicilia recht zufrieden über den ungewöhnlichen Verehrer. "Er hat eine Mutter, er hat Kinder, das heißt, er kennt Gefühle. Und wer Gefühle hat, für den ist meine Musik gemacht ..."

"Onkel Bernie" in der Hütte des Schäfers Giovanni Marino

In Corleone selbst deutet so gut wie nichts auf verdeckte Sympathien für den vor etwa einem Jahr heimlich zurückgekehrten und am 11. April von der Polizei aufgespürten Sohn der Stadt. Kein Provenzano-Bild prangt auf den mit Plakaten zugeklebten Wänden, kein Graffitto äußert Zustimmung oder Ablehnung, keine T-Shirts mit dem Konterfei des bis vor kurzem noch als "Phantom" Apostrophierten sind irgendwo im Angebot. Auch das Telefongeschäft hat nicht mehr Handys verkauft, seit die Umsatzbremse Provenzano - er hatte aus Sicherheitsgründen auf jede Art von Telefon verzichtet und dies ebenso seinen Untergebenen nahegelegt - nicht mehr stört. Allein Bürgermeister Nicolo Nicolosi rafft sich zu einem Statement auf: "Wir werden eine Straße nach dem 11. April benennen, um unserem Stolz auf die Festnahme von Bernardo Provenzano Ausdruck zu geben." Wann mit der Zeremonie zu rechnen ist, dazu mag man sich im Stadtrat noch nicht äußern. Zweifeln sollte man an der Absicht keineswegs. Corleone hat bereits einen Platz nach den ermordeten Richtern und Mafia-Jägern Falcone und Borsellino benannt und einen anderen allen Opfern der Cosa Nostra gewidmet.

Auch anderweitig müht sich die Stadt, über jeden Verdacht erhaben zu sein. In den vergangenen zwei Jahren wurden im Ortskern Wandbilder geschaffen, die ein idyllisches Landleben preisen. Im Airport von Palermo weist das größte Werbebanner auf Kunst und Kultur in Corleone hin. Und auf der Website des Ortes werden Heilige - perfiderweise ist der Hauptheilige ein Bernardo -, Schriftsteller und Künstler als sakrosankte Koryphäen hofiert. Doch ändert dies nichts daran, dass Corleone zum Refugium, zur Heimstatt geradezu, für die letzten drei großen Paten Siziliens - für Luciano Leggio, Salvatore Riina und eben Bernardo Provenzano - wurde. In Palermo war niemand verwundert, als sich herausstellte, dass "Onkel Bernie" nur zwei Kilometer von Corleone entfernt in einer Hütte des Schäfers Giovanni Marino untergetaucht war.

Dessen Anwesen gehört zu dem Flecken Montagna dei Cavalli, nicht mehr als ein paar Ställe und ein gutes Dutzend Häuser. "Die meisten Höfe sind bewohnt", versichert der Polizist, der den einstigen Unterschlupf Provenzanos bewacht. Mancher Nachbar wird des öfteren zu Marino hinübergegangen sein; der Schäfer verkaufte seinen Käse zu Hause. Jetzt aber haben sich alle hinter geschlossenen Rollläden verbarrikadiert. "Sie haben nichts gesehen", meint vielsagend der Posten.

Mit rasendem Puls auf den Einsatz gewartet

Für die Ermittler war es ein Geduldsspiel, Provenzano zu fassen. Sie hatten Schritt für Schritt dessen Helfer in und um Palermo ausgehoben und den Langzeitflüchtigen in Richtung Corleone gedrängt. Seit 2005 observierten sie das Haus seiner Lebensgefährtin Saveria Palazzolo und der Söhne Angelo und Francesco Paolo, die 1992 - unter anderem nach einem "Exil" in Deutschland - nach Corleone zurückgekehrt waren. Anfang Februar 2006 war den Fahndern aufgefallen, dass Giuseppe Lo Bue, ein Arbeitskollege von Angelo, das Palazzo-Haus mit einem Päckchen verließ. Ende März war es gelungen, den Weg eines weiteren Päckchens zu verfolgen, das von Lo Bue über dessen Vater Calogero zu Bernardo Riina gelangte. Dessen Spur wiederum verlor sich außerhalb von Corleone. Dieser Bernardo Riina (nicht verwandt mit dem Ober-Mafiosi Toto Riina) hatte Provenzano bereits 1969 bei einem Prozess in Bari ein Alibi verschafft. In den neunziger Jahren dann hatte er sich als Anti-Mafia-Aktivist ausgegeben. Eine nachgerade perfekte Tarnung.

Am 5. April 2006, eine neue Überwachungskamera war tags zuvor installiert worden, stellten die polizeilichen Beobachter fest, das Bernardo Riinas Wagen auf das Gehöft des Schäfers Giovanni Marino fuhr und wieder ein Paket expediert wurde, das den üblichen Weg gegangen war. Bis zum 9. April, dem Tag der italienischen Parlamentswahlen, vermuteten die Fahnder noch, der Hof sei eine Poststation der Mafia. Dann jedoch hatten sie erstmals einen Arm aus dem Stall auf Marinos Anwesen herausragen sehen. Zudem ergab eine sofortige Überprüfung der Stromrechnung einen erhöhten Verbrauch im Winter. Jemand musste zwischen November und März einen Elektroofen betrieben haben. Zwei Tage später, am 11. April, fuhr Riina erneut zum Schafstall Marinos. Die Beamten der mobilen Einsatzgruppe, die zwei Tage lang mit rasendem Puls auf den Einsatzbefehl gewartet hatten, konnten zuschlagen.

"In Corleone war jeder völlig überrascht", erzählt Dino Paternostro, Sekretär der Handelskammer der Stadt und Herausgeber des lokalen Online-Magazins città nuove. Niemand habe Provenzano hier vermutet. Zwar kenne jedes Kind die Gepflogenheit, dass sich die Mafiabosse, wenn es eng wird, gern in die heimischen Gefilde zurückziehen. "Doch hatte man eher damit gerechnet, dass er sich in oder um Palermo aufhält. Denn der Boss ist immer dort, wo das Geld gemacht wird."

Und wenn sich den Corleonesi ein Lichtstrahl zeigt

In den Tagen nach der Festnahme waren die Corleonesi in Scharen zur Kate des Paten gepilgert. "Zur Karfreitagsprozession hatten wir acht Stationen", erinnert sich der junge Gastwirt Gianluca Saporito mit einem Lächeln: "Sieben Kirchen, wie jedes Jahr - und danach Provenzanos Hütte."

Im Leon d´Oro, dem Gasthaus genau gegenüber dem Wohnhaus von Provenzanos Ehefrau Saveria Palazzolo, ist es ruhig. Der große Ansturm der Journalisten ist verebbt. Ohne weiteres sind wieder jene Zimmer zu haben, von denen aus man direkt zu den Gemächern der Signora Palazzolo hinüberblicken kann, doch deren Haus ist verwaist. Am Morgen bleiben die Rollläden herunter gelassen. Saveria Palazzolo ist ihrem Mann ins Gefängnis nach Terni hinterher gereist.

Das zweistöckige Gebäude wirkt für eine vierköpfige Familie großzügig, nicht protzig. Schmale lange Fenster geben ihm fast ein sakrales Gepräge. Obwohl seit gut einer Dekade bewohnt, scheint es noch unvollendet. Zement häuft sich in einer Ecke des Grundstücks, im hinteren Teil des Gartens lagern Rohre. Dieses Quartier am nordwestlichen Rand des 1000-jährigen Corleone wird erst seit den achtziger Jahren erschlossen. Mariangela Saporito, die seit 15 Jahren mit ihrem Mann das Leon d´Oro betreibt, hat das Viertel entstehen und Signora Palazzolo ins Haus gegenüber einziehen sehen. Ihr Gesicht wird streng, als sie sagt, die Nachbarin sei "eine kultivierte und elegante Frau", lebe sehr zurückgezogen, gehe selten aus und werde von allen geachtet. Diese Auskunft erhält der Fremde stets, wenn er nach Saveria Palazzolo fragt. So wird das Urteil von den Zeitungen vorformuliert und dringt von dort - versehen mit dem Kredit des gedruckten Wortes - zurück auf die Straßen und Plätze von Corleone. Ein ewiger Kreislauf.

Nach einer Pause - das Lob für die Signora kann sich währenddessen im Raum entfalten und wie ein klebriger Belag über alles andere legen - fügt mancher noch hinzu: "Schlimm, was vor 40 Jahren geschah", und macht dazu einen Gesichtsausdruck, als hätte die im Untergrund geehelichte Partnerin von Bernardo Provenzano nichts, aber auch gar nichts mit den Verbrechen ihres Mannes zu tun. Nichts mit den wahrscheinlich 40 Morden, die ihm zur Last gelegt werden, nichts mit den sechs Milliarden Euro, die von Geschäftsleuten erpresst, mit Drogen- und Menschenhandel sowie durch die Ausplünderung öffentlicher Kassen "erworben" wurden.

Auch über die Provenzano-Söhne Angelo und Francesco Paolo heißt es nur: "Brave ehrliche Burschen, die ihren Weg gehen." Und es nicht immer leicht haben. Angelo, dem älteren, habe der Staat das Geschäft, pikanterweise eine Wäscherei, geschlossen. "Einfach so, ohne Angabe von Gründen", erzählt Gianluca Saporito, der Gastwirtssohn aus dem Leon d´Oro. Bei der hohen Erwerbslosigkeit in Corleone ein herber Schicksalsschlag. "Viele der Jüngeren gehen wegen der Arbeit nach Norditalien, nach England, Deutschland oder Amerika", meint der 25-Jährige. "Doch sie bleiben Corleone verbunden - und wenn sich ihnen ein Lichtstrahl zeigt, eine Hoffnung auf Arbeit, dann kehren sie alle zurück", ist er überzeugt.

Gianluca ist mit Francesco Paolo, dem jüngeren der Provenzano-Söhne, gemeinsam zur Schule gegangen. Nur Gutes könne er über ihn sagen. Mit der Mafia habe der nichts zu tun. Wie überhaupt die jungen Leute, die mit den Maxi-Prozessen aufwuchsen und in der Schule über die Mafia aufgeklärt wurden, dafür nicht anfällig seien. "Wir wollen eine andere Art von Leben." Francesco Paolo sei jetzt in Deutschland und habe dort ein Stipendium an einer Universität, weiß Gianluca. In welcher Stadt genau, vermag er nicht zu sagen. Er weiß über seinen einstigen Schulkameraden nur, was ein jeder der Zeitung entnehmen konnte. Dass der letzte Brief an Bernardo Provenzano von Francesco Paolo stammt, stört Gianluca nicht. "Du würdest doch auch deinem Vater schreiben, egal was er getan hat ..."

Dino Paternostro, der erwähnte Sekretär der Handelskammer, ist skeptisch, was die Lauterkeit der beiden Söhne angeht. "Die Söhne von Provenzanos Vorgänger Toto Riina galten auch als unbescholten, bis sie wegen Mordes und anderer Mafia-Geschichten verurteilt wurden. Wer in diesem Milieu aufwächst, wer durch den Vater die Brutalität kennen lernt und durch die Mutter das Schweigen, hat es schwer, sich davon zu lösen."


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