Er will kein Held sein. "Als Held wirst du gefeiert, wenn du gestorben bist. Dann werden dir Blumen gebracht, eine Schule wird nach dir benannt und in den Zeitungen wird über dich geschrieben. Doch dir selbst nützt das alles gar nichts, denn du bist bereits tot", meint Giuseppe Masciari, der gebürtige Kalabreser, trocken. Masciari aber will leben. Normal leben. Nur ist dem 48-Jährigen genau das verwehrt. Vor zehn Jahren hat es der Bauunternehmer gewagt, Mitglieder eines der gefährlichsten Mafia-Clans Italiens, der Ndrangheta-Familien, anzuzeigen: besonders die Vallelunga, wegen ihrer Bösartigkeit auch Viperari - die Giftnattern - genannt.
47 Personen wurden auf seine Anzeigen hin vor Gericht gebracht. Mörder und Erpresser, doch ebenso korrupte Behördenvertreter und Unternehmer. Und noch immer laufen Prozesse, bei denen Masciari wesentliche Details beisteuern kann. Als einen der bedeutendsten Zeugen gegen die Mafia hat ihn der ehemalige oberste Antimafia-Staatsanwalt Piero Luigi Vigna hofiert. Dabei ist Masciari kein Pentiti, kein reuiger Sünder, der sich nach seiner Festnahme zur Kooperation mit den Behörden durchrang, um sich ein mildes Urteil und Hafterleichterungen zu verschaffen. Maciari ist ein Bürger, der aus eigenem Antrieb Verbrechen angezeigt hat. Deswegen muss er mit einem Attentat rechnen und lebt seit 1997 mit seiner Frau und den beiden Kindern im Zeugenschutzprogramm des Staates. Versteckt, in einer anderen Region Italiens, mit geändertem Namen und aus Sicherheitsgründen vom Berufsleben suspendiert. Was auch für seine Frau, eine Zahnärztin, gilt. Einzig die beiden Kinder gehen in die Schule.
"Wir leben wie im Gulag. Wir fühlen uns eingesperrt. Wir haben keine Freunde und keine Verwandten mehr", klagt der vitale Mann. Die Großfamilie - acht Geschwister allein hat Masciari - ist im heimischen Serra San Bruno geblieben. "Die Abreise war ein Alptraum. Wir hatten kaum Zeit für die Vorbereitung. Wir durften keine Möbel mitnehmen, nur was wir am Körper trugen sowie einen Koffer. Zuerst brachte man uns in ein einsames Haus an einer Bahnstrecke. Hinter dem Grundstück verliefen die Schienen, vorn flanierte der Straßenstrich."
Mittlerweile ist die Familie in ein anderes, von den Behörden ausgesuchtes Anwesen umgezogen, aber die Wohnqualität lässt sich keinesfalls mit dem Haus am Meer vergleichen, das die Masciaris einst Hals über Kopf verlassen mussten. 1.700 Euro pro Monat erhält die Familie für alle Ausgaben wie Kleidung, Essen, Telefon. 1.700 Euro, wie es das Gesetz vorsieht.
Sie baten nicht, sie forderten
Etwa 5.000 Personen partizipieren derzeit nach Angaben des italienischen Innenministers am Schutzprogramm, größtenteils Familienangehörige von Zeugen. Zudem 978 Pentiti, also Ex-Mafiosi, wovon 290 zur Cosa Nostra, 268 zur Camorra und 121 zur Ndrangheta gehört haben. Im Unterschied dazu gibt es nur 48 unbescholtene Bürger wie Giuseppe Masciari, die durch ihre Zeugenaussagen in Gefahr gerieten, ohne je der Mafia nahe gestanden zu haben. Wer im Zeugenschutzprogramm steckt, ist de facto ein Mündel des Staates, kann nicht frei über seinen Wohnort befinden, muss Reisen beantragen und Besuche genehmigen lassen. Einem Antrag auf Arbeit kann stattgegeben werden, muss aber nichts. Vor allem dies, die ökonomische Abhängigkeit, lastet auf dem einstigen Geschäftsmann Masciari.
"Man behandelt mich immer als Kronzeugen der Justiz, aber das bin ich nicht - ich bin Unternehmer aus Leib und Seele!" - er schreit es fast aus sich heraus und tigert aufgebracht durch den Raum. Er ist verzweifelt, dass seine Courage ihm das Leben verbaut. Wenn er noch einmal die Wahl hätte - anders entscheiden würde er sich trotzdem nicht.
Seit Oktober 2006 tritt Masciari bei Treffen des Antimafia-Verbandes Libera öffentlich auf. Es sind, sieht man von seinen fast wöchentlichen Terminen vor Gericht ab, die ersten Begegnungen mit einem größeren Auditorium seit Jahren. Masciari erklärt vor Jugendlichen und Erwachsenen Norditaliens, was Mafia im Alltag bedeuten kann, und erzählt seine Geschichte.
1985 stieg der gelernte Bauingenieur in die Firma seines Vaters ein und bewarb sich, um ein eigenes Arbeitsfeld zu haben, auch bei öffentlichen Ausschreibungen. Er gewann ein Straßenbauprojekt - und prompt rief die Ndrangheta bei ihm an, ließ ihn jedoch nach einer Intervention seines Vaters in Ruhe. Der hatte bereits dem Chef der Familie Vallelunga seinen Tribut gezollt und verweigerte weitere Zahlungen des Sohnes kategorisch. Im Jahr 1988 starb der Firmenpatriarch, und Giuseppe Masciari führte die Geschäfte allein weiter. Und das erfolgreich. Das Interesse der Ndrangheta wuchs. "Anfangs bat man mich um kleine Gefälligkeiten, ein paar Millionen Lire hier, ein paar Millionen dort. Einer sagte, ich solle ihm doch ein neues Auto kaufen. Ein anderer wollte einen Job für einen Verwandten. Es ging genau um die Art von Diensten, die ein Unternehmer seiner Umgebung zuweilen leisten muss."
Masciari baut auf Anfrage eine Begräbnisstätte für Cosimo Vallelunga, den Bruder des lokalen Ndrangheta-Chefs Damiano - bezahlt wird er dafür nie. "Vollends unannehmbar wurde die Situation, als ein paar junge arrogante Burschen auf mich zukamen und etwas über regelmäßige Monatsraten schwadronierten. Und sie baten nicht, sie forderten", erinnert sich Masciari. Drei Prozent auf alle Bauten lautet damals der Tarif der Ndrangheta. Und sechs Prozent von den durch sie vergebenen öffentlichen Aufträgen wollen Angestellte der Kommune einstreichen. Masciari zahlt stillschweigend und sieht sich nach anderen Auftraggebern um. Er bekommt den Zuschlag für Projekte in Leipzig, Dresden und Berlin. Als er sich für kurze Zeit in Dessau aufhält, wird er von Landsleuten, die dort ein Restaurant betreiben, angesprochen: "Wenn du Geld waschen musst, komm´ zu uns. Wir haben die notwendige Infrastruktur."
In einer Liga mit FIAT
Masciari meint heute, für ihn sei dies damals ein exemplarisches Erlebnis gewesen. Die vier süditalienischen Verbrechersyndikate Cosa Nostra, Ndrangheta, Camorra und Sacra Corona Unità seien offenbar europaweit präsent.
Laut einer BND-Studie vom Herbst 2006 nutzt vorzugsweise die Ndrangheta bestimmte Regionen in Deutschland nicht mehr allein als Rückzugsraum, sondern ist auch ökonomisch aktiv. In Italien gilt sie inzwischen als das gefährlichste der genannten vier Syndikate. Im Jahr 2005 konnte die Ndrangheta 35 Milliarden Euro umsetzen, schätzte die italienische Handelskammer in ihrem Bericht SOS Impresa vom Juli 2006. 30 Milliarden Euro seien auf die Konten der Cosa Nostra geflossen, 28 Milliarden auf die der Camorra.
Die Ndrangheta spielt damit in einer Liga mit dem FIAT-Konzern, der 2005 einen Jahresumsatz von 46,5 Milliarden Euro verzeichnet, und verdankt eine solche Position nicht zuletzt der Dominanz im Kokaingeschäft. Hier hat sie die Konkurrenz von Camorra und Cosa Nostra klar an ihre Grenzen erinnert, vermerkte im Vorjahr eine Studie der Antimafia-Behörde des römischen Innenministeriums. Alarmierender noch als der ökonomische Spitzenwert ist freilich der Grad der mafiosen Durchdringung der kalabrischen Gesellschaft, immerhin beträgt das Verhältnis von Ndranghetisti zur normalen Bevölkerung 1 : 345. Mit anderen Worten: Auf jeden 345. Bürger Kalabriens kommt ein Mann der Ndrangheta (1 : 903 lautet der Vergleichswert für Sizilien), deren kriminelle Potenz dadurch gestärkt wird, dass sich ihre Netzwerke fast ausschließlich aus Blutsverwandten rekrutieren - im Gegensatz zur Cosa Nostra, die ihre Mitglieder traditionell lieber nach dem "Leistungsprinzip" als dem "Abstammungsprinzip" auswählt.
Diese Identität der Ndrangheta erschwert das Eindringen von außen ebenso wie einen Ausstieg aus dem Kreislauf der Gewalt. Wer ausscheren will, muss nicht nur ehemalige Partner anzeigen, sondern Brüder, Onkel und Väter.
Unter der Fuchtel eines solchen Syndikats entscheidet sich Giuseppe Masciari 1990 zur Gegenwehr. Er lehnt es ab, Schutzgeld zu zahlen, und lässt die ihm gesetzten Fristen verstreichen. Prompt gelten ihm verbale Drohungen. 1991 kommt es zu ersten Diebstählen auf seinen Baustellen. Ein Jahr später wird eine Garage angezündet - der Schaden beträgt 70 Millionen Lire, es folgen weitere Brandstiftungen, 1993 wird auf einen von Masciaris Brüdern geschossen. Zur Einschüchterung durch die Mafia gesellt sich der Boykott durch lokale Amtsträger. Masciari hat ihnen schließlich die verlangten sechs Prozent verweigert.
"Plötzlich musste ich feststellen, die Kommunalverwaltungen verzögerten die Bezahlung meiner bereits geleisteten Arbeiten über Monate hinweg. Sie brachten mich in derartige Schwierigkeiten, dass ich Ende 1993 die Firma schließen und Konkurs anmelden musste", erzählt Masciari. Zwar verfügt er noch über Aufträge in einem Volumen von 25 Milliarden Lire, doch erschlagen ihn die Schulden. Die mit dem Fall befasste Richterin Patrizia Pasquin bleibt hart und verfügt den Konkurs.
Die stille Teilhaberin
Im Oktober 2000 allerdings entscheidet ein Gericht in Catanzaro (Kalabrien), dass die Pleite von der Mafia verursacht worden sei und Masciari deshalb das Recht auf eine angemessene Entschädigung habe - ein bislang einmaliges Urteil für die italienische Justiz. Masciaris Anwälte forderten 1,2 Millionen Euro für den durch Fremdverschulden erlittenen Konkurs, dazu eine Million pro Jahr für entgangene Verdienste und eine weitere Million als Kompensation für erpresstes Schutzgeld.
Für Genugtuung sorgt bei dem in den Bankrott getriebenen Unternehmer, dass im November 2006 ausgerechnet die Richterin aus seinem Konkursverfahren wegen Kooperation mit der Ndrangheta verhaftet wird. Patrizia Pasquin soll stille Teilhaberin eines von der Ndrangheta betriebenen Feriendorfs gewesen sein und im Gegenzug Gerichtsverfahren manipuliert haben.
Manchmal, wenn er wieder einmal verzweifelt ist über seine Lage - so fernab von Freunden und Verwandten - und dem Staat dermaßen ausgeliefert, mutmaßt Masciari, das Zeugenschutzprogramm sei eine subtile Bestrafung für den aufrechten Bürger. Denn zu Gerichtsterminen werde er oft im Fiat Tipo mit durchsichtigen Scheiben kutschiert, während die Mafia-Aussteiger in großen Karossen mit abgedunkelten Fenstern unterwegs seien. Manchmal werde sein Fahrzeug für alle sichtbar vor dem Gerichtsgebäude geparkt. "Es wäre ein Leichtes, die Spur aufzunehmen", meint er. "Ich fühle mich nicht wirklich ausreichend geschützt. Und wenn es ein Land in Europa geben sollte, das einen ehrlichen Bürger aufnehmen will, dann bitte ich dort sofort um politisches Asyl."
Aus Protest gegen die unzureichenden Schutzmaßnahmen begibt er sich Ende März ohne Eskorte zu einem Gerichtstermin in seine kalabrische Heimat, begleitet von einem Aktivisten des Antimafia-Vereins Libera. "Das ist jetzt meine Familie", sagt Masciari trotzig und weiß um das Risiko, das er eingeht. "Man kann nicht nur gegen die Ndrangheta aufbegehren und sie juristisch bezwingen - man kann auch gegen dieses Syndikat seine Heimat behaupten.
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