Schon als Kinder haben wir Sport, nein Körperertüchtigung, betrieben. In den Schulfarben blau und weiß; blaue Stoffturnhose und weißes Feinripp-Unterhemd traten wir zu jeder Sportstunde aufgereiht vor der Turnhalle an. Da unsere Schule keinen eigenen Sportplatz hatte, rannten wir in einem anrainenden Park, der an Vormittagen mitunter nur gering von spazierenden Rentnern und kötelnden Hunden bevölkert war. Die Laufdistanzen indes waren von unserem Sportlehrer-Ehepaar mit dem Maßband ausgemessen und mit roter Farbe markiert worden. Das ergab leichte Abweichungen und Rundungsfehler, aber im Kampf Kind gegen Kind musste, egal ob einige Meter mehr oder weniger, der Bessere gewinnen. Wir trieben ja Sport, nicht aus dem heutzutage verbreiteten Egoismus, sondern
rn aus der Gemeinsamkeit für die bessere Sache, die hieß, in der Blüte eines noch jungen Staates aufzuwachsen. Gegen die heutigen Läufer, denen es einzig und allein um den Kick des Endorphinaustoßes geht, verband uns schon in jungen Jahren ein Gefühl der moralischen Überlegenheit.Überdies trugen auch die Mädchen die gleiche leichte Bekleidung, was in den höheren Klassen an Bedeutung zunehmen sollte. Auch bei uns galt das olympische Prinzip, dass zwischengeschlechtliche Disziplinen nicht auf dem Stundenplan standen.Das eigentlich Besondere unseres jungen Sportlerlebens waren die Prüfungswettkämpfe und Sportfeste auf einem, mit dem Bus etwa 20 Minuten entfernten Areal, das unter uns nur Alaska-Sportplatz hieß. Hier gab es so ziemlich alles, was uns sonst im Park und auf dem Schulhof fehlte: Weitsprunggruben, Tartanbahnen, eine Wurfwiese und die Hochsprunganlage mit Matten. Alaska war eine für uns klangfreudige Abwandlung des eigentlichen Namens, auf den wir gut verzichten konnten. Wir machten uns damals auf alles eigene Namen und erfanden großartige Wortschöpfungen, aber das ist eine andere Geschichte! Auf dem Alaska-Sportplatz und das meinten wir mit einigem Respekt, war die Welt eine größere. Wir waren es von jenem kleinen Park nicht gewöhnt, groß ausgeschnittene Kurven mit weiten Radien zu laufen, sondern eher eckige, kantige Wege, mit ab und zu aufgescheuchten Zwei- oder Vierbeinern, denen wir auszuweichen hatten. Die jetzt scheinbar endlosen Runden, die immerzu gleichförmig blieben, ließen uns jene Weite erahnen, die uns mit Alaska verband. Wir stürmten los und kamen nur dann von der Stelle, wenn wir den weißen Linien der Bahnbegrenzung folgten und als wir fast schon die Wechselmarke erreicht hatten, schienen die hingekauert Wartenden bereits, vermeintlich zu früh, losgerannt; so dass wir sie und sie uns verfolgten, den Stab in der Hand, den zu übergeben wir ja gewillt waren. Wenn einer stürzte, es gab keine Hürden oder Wassergraben, fiel der Staffelstab zu Boden und erreichte kaum mehr den Vordermann, der ja schon die Beine durch die Luft wirbelte, den Startschuss als Echo im Ohr und alles war vergebens. Hinter dem Ziel lag das Ziel, wo wir ausgepumpt dahinsanken oder uns sofort ins Gebüsch übergaben. Und wie sehr haben wir versucht, dieses abgeschlossene System unabänderlicher Permanenz zu unterlaufen, in dem wir bei den Rundenzahlen schummelten oder uns für einige Minuten hinter dem Unkleidehäuschen versteckten; doch niemals war es uns wirklich gelungen, die Gesetzmäßigkeit einer Stadionrunde außer Kraft zu setzen. Seitdem habe ich viele Stadien gesehen und Sportplätze mit ihren genormten Strecken, immer mit dem Schrecken unter der Haut, nichts dagegen tun zu können. Oft spaziere ich jetzt in Gegenden mit Sportplätzen und drücke die Nase zwischen den Gitterzaun, beobachte für einige Minuten die Läufer, die überwiegend neuzeitliche Jogger sind, mit ihren bunten Pulsuhren und Trainingsanzügen. Sie traben mit ausgelöschten Gesichtern im Irrsinn der ständigen Wiederholung, einer stumpfsinnigen Wiederkehr des Gleichen. Auf diesen Bahnen habe ich Dutzende Männer und Frauen gesehen, beleibt oder verhärmt, die ihre Seele ausschwitzten, jeder für sich allein und mit weit aufgerissenen Augen. Seitdem war ich nicht mehr in Alaska und laufe nurmehr barfuß im Regen. Doch einmal habe ich es noch versucht, die alten Laufschuhe unter den Sohlen und ein grünes Unterhemd am Leib; Wind ging, die Bäume verneigten sich. Ich sah ihr letztes Grün in einer Kurve, die mich davontrug. Die Füße lösten sich vom Boden, ich nahm, ja, die Beine in die Hände. Auf der Schlussgeraden leuchtete das Laub, leicht entflammbar. Ich dachte noch, du wirst diese Runde nicht mehr beenden, da schoss mein Körper schon durch das Zielband. Ich schmeckte den Lorbeer des Siegers auf den Lippen, Blumen gingen auf mich hernieder.
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