Wie wohl keine andere der Literaturen, ist die russische Literatur der letzten Jahrhunderte ein vielteiliges Gemälde des Alltagslebens zu verschiedenen Zeiten. Sei es in den Erzählungen Tschechows oder Tolstois, den frühen Geschichten Gorkis oder der meisterlichen Prosa Wassili Schukschins. In diesen Geschichten findet sich immer wieder auf eindringliche Weise der Blick auf den einfachen Menschen, die Störungen und Verletzungen einzelner Leben, in denen der Schmerz der Epoche gespiegelt und dem Leser begreiflich wird. Eine Tradition, die bis zum "sozialistischen Realismus" des ausgehenden 20. Jahrhunderts reicht, in dem "das Leben des Volkes" jedoch zumeist auf ästhetisch und inhaltlich fragwürdige Weise ins Bild gesetzt wurde.
Wie man weiß: Tradition, die zu stark ist, verhindert Neues, andersherum: eine Kunst ohne jeden Verweis auf ihre Tradition gleicht mitunter einem geistigen Armenhaus. In diesem Spannungsfeld, rechtzeitig zum Schwer-punkt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, können nun die in zwei Anthologien namens Rußland und Immerhin ein Ausweg vertretenen gut zwei Dutzend "neuen Erzähler" einen Eindruck russischer Gegenwartsliteratur vermitteln. Und das nicht ohne Schwierigkeiten, haben wir es doch, so die Herausgeberin des Russland-Bandes, Galina Dursthoff, "mit den neunziger Jahren in Russland literarisch ...wie in der westdeutschen Nachkriegsliteratur ... fast mit einer Stunde Null zu tun".
Da es hierzulande eine literarische "Stunde Null" nicht wirklich gegeben hat, bleibt fraglich, inwiefern das "schöngeistige Vakuum" nach dem Wandel eines unerträglichen Staatssozialismus russischer Prägung in einen nationalistischen Raubkapitalismus schwarze Löcher in den Bewusstseinsformationen hinterlassen hat. Eine Antwort hierauf versuchen zumindest einige der Geschichten zu geben.
Wenn in Sergej Nossows Text Tabuthemen dem betrunkenen Ich-Erzähler von zwei ebenso betrunkenen Ganoven der Leichnam Lenins für einige Flaschen Portwein verkauft wird und nun im Delirium für alle Zeit vergraben werden soll, konstatiert der Filmriss das Geschehene: "Ich glaube: Wir haben den Leichnam begraben. Ich würde es gerne glauben. War es eine Grünanlage oder ein Garten, vielleicht der Jussupowgarten?" Ähnlich in Jana Wischnewskajas Erzählung Durch alle Meere und Länder, einer bitterbösen Satire auf eine weitere Bastion: der Vaterländischen Armee, in der die Autorin allerlei große und kleine Militärs auf makabre Weise aus dem Dienst befördert und ihren Protagonisten Schukow in einen Science-Fiction-Helden verwandelt, was die Geschichte allerdings ins Banale abdriften lässt.
Was in einer Reihe der Geschichten auffällt: ihr trotziger, drastischer, mitunter mit den Muskeln spielender Ton, der nicht immer für literarische Qualität steht. So werden Texte wie Ilja Stogoffs Einfach ein Abend zu einer schlechten Bukowski-Adaption oder Michail Jelisarows Der Stadtteil hieß Panfilowka als eine Parabel über "den Arsch der Arbeit" beziehungsweise wer in ihn hineingeht, eine allzu bemühte Persiflage. Schlimmer ergeht es einem noch bei der jüngsten Autorin: Irina Denezkina (Jahrgang 1981), deren Erstling Komm" dieser Tage auf deutsch erschienen ist (Freitag 42/2003).
Ihre Teenager-Liebesgeschichte für Lehramtserstsemester Issupow, die literarisch knapp über Schülerzeitungsniveau liegt, könnte höchstens bei Soziologen auf Interesse stoßen. Mit Schaudern fühlt man sich hierbei erinnert an Groschenhefte mit Pferdeköpfen. Trotzdem findet sich äußerst Gelungenes in einigen Erzählungen: wie in der eher tragikkomisch-absurden Prosa Alexander Churgins So was Dummes und seinem Helden Kolja Samajew, der gerade aus dem Knast entlassen, bereitwillig seinen Bruder Tolja in das Bett seiner Frau manövriert, bevor diese von der Nachtschicht nach Hause kommt. Der Betrug fällt auf und gipfelt in den Worten: "Ihr seid doch Schweine". Danach stürzt sich Samajews Frau aus dem Fenster. "Dumme Gans, ich konnte garnichts tun" - so der Bruder. Am Ende der Geschichte schlägt Kolja erst eine Scheibe des Krankenhauses ein und danach einem Polizisten die Vorderfront, der ihn als Strafe zu gemeinnütziger Arbeit verdonnert hat: "Ich habe meine eigene Frau zum Krüppel gemacht ... und ihr Scheißbullen gebt mir dafür nur fünfzehn Tage." Bemerkenswert, neben Vladimir Sorokins Extrem-Prosa Hiroshima, ist auch die Geschichte des St. Petersburger Autors Pawel Krussanow, der in Anderer Wind seine Erzählfigur Gwosdjukow auf einem surrealen Spaziergang durch seine winterlich graue Heimatstadt in einem Theatersaal von der Größe einer Zuckerdose belgischen Wodka trinken lässt, bis dieser nach und nach in eine von der Wirklichkeit abgetrennte Welt versinkt. Ein anderes Kapitel schlägt die schon bekanntere Ljudmila Ulitzkaja in ihrer Erzählung Russische Frauen auf: unsentimental, ironisch gebrochen zeichnet sie ein Bild ihrer Landsfrauen im amerikanischen Exil und stellt indirekt die Frage nach dem Selbstwertgefühl einer ganzen Generation, die mit sich allein und ihren Sehnsüchten auf dem Markt der Warengesellschaft angekommen ist. In Ulitzkajas Erzählung wird aus Selbstschutz Larmoyanz, aus sexueller Unfreiheit Frustration und mit der Verstrickung in die täglichen Lebenslügen wächst der Gedanke, auch hier am falschesten Ort der Welt zu sein.
So ist der Tenor des zweisprachigen Sammelbandes Immerhin ein Ausweg umrissen, in dem sieben Autorinnen versammelt sind. Lässt man die misslungene Kurzgeschichte Mama von Irina Polskanskaja beiseite, verdichtet sich in den anderen Texten die Suche nach der inneren Gestalt des Menschen. Wie in Galina Baschkirowas glänzendem Prosamonolog Mir allein, in dem eine Frau um jeden Preis versucht, der Friedhofsvorsteherin die Urne mit der Asche des Geliebten abzu-kaufen, weil diese nicht ihr, sondern der Ehefrau zusteht, ist vielleicht die berührendste Geschichte, an deren Ende der Liebste sein Grab im heimischen Garten findet: "Fedjenka, hörst du mich? Jetzt gehörst du mir allein." Und wenn in Marina Wischnewezkajas Der Architekt Komma Der nicht mit mir spricht die Ich-Erzählerin feststellen muss, dass sie nur noch ein Körper ist ohne Innenleben, der dem Verschwinden der Seele zuschaut, mag man an Becketts Zeilen denken: "Bei jedem ist das Fehlen der Liebe anders/bei jedem ist das Fehlen der Liebe gleich". Insgesamt wirkt das schmalere Bändchen Immerhin ein Ausweg in der Auswahl der Texte homogener und substantiell zeigt sich, dass in einer Reihe der Geschichten die Tradition russischer Erzählkunst, als Paraphrase über das vielfach beschädigte Leben, auf eindrucksvolle Weise fortgeführt wird.
Rußland - 21 Erzähler. Herausgegeben von Dalina Gursthoff, dtv, München 2003,
283 S., 9,50 EUR
Immerhin ein Ausweg - Erzählungen russischer Autorinnen der Gegenwart. Herausgegeben von Natalija Nossowa. Übertragen von Christiane Körner und Antje Leetz, dtv, München 2003, 167 S., 9,50 EUR
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