Ich habe die Sechsen noch nicht gesehen, denn ich bin zahlenblind. Überall in der Stadt sollen sie zu lesen sein: auf Türmen, Schornsteinen und Häuserfronten; auf Türen, Lagerhallen und Plakatwänden. Jemand soll sie gemalt haben, aber ich habe sie noch nicht gesehen! Kein einziges Mal, dabei erzählt mir ein Freund seit Monaten davon.
Dass es Sechsen gibt, habe ich schmerzlich erfahren müssen, da ich ja auf Kriegsfuß stehe mit jeglicher Form von Mathematik, von höherer ganz zu schweigen! Warum ich mich während meiner Schulzeit, in einem frühsozialistischen Deutschland, mehr für Bolzplätze und Trinkhallen interessiert habe als für komplizierte Brüche ist mir heute nicht mehr anzulasten. Ich habe das Falsche gelernt: d
gelernt: die Freiheit im Fall, physikalisch, und im Geschichtsunterricht Dutzende Bauernkriege, mit denen wir die Erfindung des Rinderoffenstalls teilten: so etwas wie dem Achten Weltwunder! Als Einziger in meiner Klasse trug ich keine Zahnspange und fand die kleinen pickligen Mädchen abstoßend mit ihren Läusekämmen und Halstüchern, ihren Brotranzen und Brustbeuteln, aus denen sie die Wurststullen herauskramten. Nie wieder kommt ein Oktober, der groß und rot ist, denke ich jetzt.In der Bahn sagt ein Junge zu seinen Kumpels: "Ej, ich hab heut fünf Sechsen bekommen, ist doch geil, oder?" Seine Kumpels fassen sich nur an den Kopf. Und einer fragt: "Sagst du das auch deinem Vater?" Darauf er: "Ich werd mich hüten."Ich mache mich auf die Suche; ist es das puertoricanische Viertel der Stadt? Das hispanolische Viertel mit dem Eckimbiss, wo es zum Frühstück linksrum gebratene Eier gibt und gepanschten Kaffee bis zum Abwinken?Es ist die gleiche Stadt, in der ich schon so oft gewesen bin und den halben Tag in russischen Cafés gesessen habe, nah am Ozean, mit veränderlichen Wimpern über den Rand einer Zeitung gebeugt. Hinter dem Lidstrich der Schlagzeilen, die einem nichts verheißen als Seebeben und Geschichten von Menschenfressern. Ich gehe eine aufgerissene Straße entlang, in der Kanalarbeiter in Schächte steigen, die Leiter hinab auf Steigeisen und sehe wenig später ein Auge, dass Bilder vom Innern der großwandigen Rohre macht. Im Untergrund sind alle Städte verletzlich und Risse unvermeidlich.In einem Laden für Günstigkeit erstehe ich Dinge des täglichen Bedarfs. An der Kasse sagt die Verkäuferin mit dem IchberateSiegern-Button unvermittelt: "Sechssechsundsechzig, bitte!"Seit die härtere Währung, beim Kauen im Mund, immer mehr wird, ist es doch möglich, für einen so geringen Betrag den Abend recht erfreulich zu gestalten. Ich überdenke die Lage, die alles andere als aussichtslos ist: Eine Flasche Riesling, Champignons und süße Sahne, ein Mineralwasser mit wenig Gas, dazu weißes Brot und Butter, zum Schluss zwei Schälchen Katzennahrung: Ragout mit Pute in heller Soße!Mit den Sechsen hilft mir das auch nicht weiter; die Erklärungen liegen auf der Straße, heißt es, und von Teufelsanbetung verstehe ich zu wenig. An einem Abrissgelände, mit von Tauben besetzten Dächern, nahe der Hochbahntrasse lese ich den Schriftzug: POET. Wie viele Sechsen, wenn man sie auf den Kopf stellt, in diesem Wort enthalten sind, scheint unergründlich. Und auch das Abrissgelände ist plötzlich wie verwandelt: ein Fabrikgebäude inmitten von Wohnblöcken. In einem der ärmeren Quartiere der Stadt: die ein Tiefausläufer ist, eine größer werdende Beule; man könnte meinen Wutbeule, die man zuerst in seinem Kühlschrank entdeckt hat. Wenn man dem täglichen Schrecken aufsitzt, dass im Kräuterkissen mal wieder die falsche Braut liegt und die Sprossen ausgegangen sind. Im Müsli entdeckt man ganz fatal Sägespäne und die Ratten schlurfen nur so in aller Seelenruhe zwischen den Pantoffeln hindurch.Letztlich, denke ich, sind die Sechsen dann wohl die Verschlüsselung einer schwangeren Frau (im letzten Monat) - und sie überall hinzumalen, entspricht den unzuverlässigen Kindersicherungen, wie sie jetzt schon beim Katzenfutter angewendet werden.Egal, ich habe den Kassenzettel aufgehoben und ihn in ein Einweckglas gelegt, so hält er sich länger. Von Zeit zu Zeit nehme ich ihn heraus und versuche mir eine Hegemonie gerader Zahlen vorzustellen. Ich habe, wie gesagt, aus der Mathematik die eine oder andere Schramme zurückbehalten. Mein linkes Auge zum Beispiel ist trüber als das rechte und die Brauen unregelmäßig, was darauf zurückzuführen ist, dass meine eine Gehirnhälfte der anderen nicht vorsagt, eine mittlere Katastrophe ist das!Sechsmal bin ich sitzen geblieben und sechsmal tat mir der Hintern weh danach; ich hatte unerbittliche Erziehungsgerechte, mit der Berechtigung wenn schon nicht zum Töten, dann zum Eintauschen.Man wollte mich in ein Heim für Einsiedler stecken, aber dann kam die Vorsitzende vom Rat des Kreises und legte für mich ein Wortschatzzitat ein! So bin ich dann doch auf die Traktoristenschule gegangen in Jena-Lobeda und kam auf den richtigen Weg: Ackerbau und Viehzucht!Französisch kann ich auch nicht! Und das Mädchen in der Tram, das zu ihrer Mitschülerin sagt: "Ich vergesse immer das Plural-S" lächelt mich auf einmal unverhohlen an, so dass ich in ihr Zahngehege blicke aus blitzendem Feinmetall. Die Dentisten waren es, die den dreifaltigen Betonwürfel anzündeten; jetzt fällt es mir wieder ein. Doch mir genügt es, von Dingen zu wissen, ohne sie auszusprechen. Und wenn ich jetzt auf die Straße trete an eine der Garküchen, um mir eine Portion Nudeln mit Schrimps zu holen, wird der Himmel wohl ganz und gar ausgewaschen sein, wie die Kieselsteine in meinem Teppich alter Schule. Von mir aus kann dieser graugegerbte, ja taubenfarbene Himmel abziehen durch die nächste Küchenhaube! Ich frage ja auch nicht nach einem Wohin. Nur die Kälte soll nicht mehr gegen die Häuserwand stehen wie eine Drohung: wie eine riesige Faust in einem festgefrorenen Handschuh. Dann lieber auf dem zerkratzten Buffet eines Sees die bunten Paarläufer sehen, die ihre Pirouetten drehen: Kreise, Figuren und lauter Sechsen!
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