Der 21. August 1968 begann für die große Koalition in Bonn mit einer Krisensitzung. Der Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR wurde einhellig verurteilt - nicht nur von den Bundestagsparteien. Als sich der sowjetische Botschafter Zarapkin am frühen Nachmittag auf den Weg zu Kanzler Kiesinger aufmachen wollte, versperrten ihm bereits protestierende Studenten den Weg.
In der DDR waren demonstrative Äußerungen auch an diesem Tag allein Sache der Partei. Seit dem Morgengrauen verbreitete der Rundfunk offizielle Verlautbarungen über das "Hilfeersuchen" einer nicht näher bezeichneten "Gruppe der tschechoslowakischen Führung". Den nun militärisch geführten "Kampf gegen die antisozialistischen und konterrevolutionären Krä
n Kräfte" verklärte die SED zu einem "leuchtenden Beispiel des sozialistischen Internationalismus".Der Hinweis der Partei- und Staatsführung, jedem DDR-Bürger sei doch sicher verständlich, dass ohne den Einmarsch für "unsere Republik" eine "unerträgliche Lage geschaffen worden wäre", musste jedoch viele Ohren schmerzen. Das Ende des Prager Frühlings erfuhren nicht nur Kritiker der SED-Politik als niederschmetternd. Der Einmarsch schnürte sogar gutgläubigen Genossen die Kehlen zu. Die CSSR stand vielen, so formulierte es einmal der Historiker Stefan Wolle, der damals 18 Jahre alt war, für "ein wenig mehr Luft zum Atmen, ein bisschen mehr Farbe im realsozialistischen Alltag".Offener Protest blieb in jenem August 1968 weitgehend aus. Der Leipziger Historiker Hartmut Zwahr, dessen beeindruckendes Tagebuch jener Monate im vergangenen Jahr erschienen ist, kam erst Wochen nach dem Einmarsch überhaupt darauf zu sprechen - anlässlich einer Rundfunkmeldung über den Prozessbeginn gegen die beiden Söhne Robert Havemanns, denen eine Protestaktion gegen die Intervention eine Anklage "wegen staatsfeindlicher Hetze" eingebracht hatte: "Sie hatten den Mut, zu sagen, was die große Masse unserer Menschen am 21. August und danach empfand. Dass sie so gut wie allein blieben, ist eines der ernstesten Probleme", sagt Zwahr über die damalige Lage in der DDR. "Jeder zieht sich in seine vier Wände zurück."Ganz allein waren Frank und Florian Havemann, damals 19 und 16 Jahre alt, nicht geblieben. Was Zwahr als Zeitzeuge kaum wissen konnte, weil es verschwiegen wurde, können die Historiker heute in den MfS-Akten nachlesen: 1.290 Ermittlungsverfahren "wegen Straftaten im Zusammenhang mit den Maßnahmen der verbündeten sozialistischen Staaten" waren bis Ende November 1968 in der DDR eingeleitet worden. Was sich dahinter verbarg? Die Staatssicherheit in der Hauptstadt hatte ganz genau nachgezählt: "An 389 Stellen in Berlin wurden insgesamt 3.528 Flugblätter verbreitet und an 212 Stellen 271 Hetzlosungen geschmiert."Über die unmittelbare Wirkung der Aktionen war das MfS kaum besorgt. "In keinem Fall wurde eine Massenwirksamkeit erreicht", hieß es in einem der zahllosen Berichte. Doch eine gewisse Erschütterung tritt noch heute aus den Akten hervor. "Nur ein geringer Teil der Täter" habe sich "offen zur Konterrevolution" bekannt, vermerkte die Staatssicherheit und musste einsehen, dass die "Bekenntnisse zu Dubcek" aus einer Haltung resultierten, die dem Sozialismus wohlgesonnen war, wenn dieser nur etwas reformiert würde.Hinzu kam, dass vor allem junge Arbeiter, Angestellte und Lehrlinge hinter den Aktionen standen - also Vertreter jener Klasse, die in den Augen der SED Geschichte machen sollten. Dass diese aus eigenem Antrieb, aus guten politischen Gründen oder auch nur gesundem Menschenverstand die Intervention ablehnten, davon wollte die Administration in der DDR lieber nichts wissen. "Die Mehrzahl der Straftaten", teilte die Staatssicherheit ihrer Partei mit, sei "unter direktem Einfluss der politisch-ideologischen Diversion des Gegners" entstanden.Die Irritation über die Proteste musste dadurch noch größer werden, dass die Urheber der wenigen Aktionen gegen den Einmarsch in der Tschechoslowakei, die auch in den Westmedien für Schlagzeilen sorgten, aus Familien der DDR-Prominenz kamen.Schon ab Mitte der sechziger Jahre hatte sich in Berlin ein Freundeskreis gebildet, zu dem neben den Söhnen Robert Havemanns unter anderem auch Erika Berthold zählte, die Tochter des damaligen Direktors des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Auch Rosita Hunzinger, deren Mutter eine bekannte Bildhauerin war, Thomas Brasch, dessen Vater als stellvertretender Kulturminister amtierte, und Hans-Jürgen Uszkoreit, der Sohn des Dresdner Musikhochschuldirektors, gehörten dazu. Gegen den Einmarsch verteilten sie Flugblätter und malten Parolen an Häuserwände. Es folgten Verhaftungen, Prozesse, Verurteilungen zu teils mehrjährigen Haftstrafen, bald aber auch die Aussetzung zur Bewährung. Die protestierenden Kinder hatten schließlich privilegierte Eltern, es war ein "Aufstand der Jeunesse dorée" (Stefan Wolle)."Wir dürfen auf die Barrikaden gehen, wenn es um Musik geht oder um Frisuren oder um Hosen. Das schadet keinem, und nach einer Weile werden wir die Tür einrennen, die sie angelehnt haben, und wir werden auf der Nase liegen", schrieb Thomas Brasch knapp zehn Jahre später in Vor den Vätern sterben die Söhne. "Dann werden wir von dieser leeren Gegend in unserem Herzen sprechen wollen, aber sie werden mit großer Geste auf das Leid in Indien weisen und uns Kleingeister nennen. Nichts trifft sie mehr, als wenn wir beginnen, über unsere Erfahrungen zu reden so laut, wie sie über ihre."Die Erfahrungen - das waren die der antifaschistischen Widerstandskämpfer und vor den Nazis geflohenen Emigranten. Wenn es einen Unterschied zwischen dem spätsommerlichen 1968 in der DDR und jenem ganzjährigen in der Bundesrepublik gegeben hat, dann diesen: Anders als im Westen waren die Eltern der Achtundsechziger in der DDR mehrheitlich keine Nazis. Das Problem ihrer Kinder, schreibt der Kulturwissenschaftler Dietrich Mühlberg, der damals 22 war, bestand also gerade "nicht darin, die beschwiegene NS-Vergangenheit protestierend ans Licht zu holen und die fortlebenden hierarchischen Strukturen anzugreifen. Sie dagegen mussten damit fertig werden, dass ihre Eltern, ihre Lehrer und deren Partei immer Recht hatten".Der Graben zwischen der von den einen erlebten Realität und den durch die anderen hochgehaltenen Ideale wurde jedoch immer größer - und in jenem August 1968 schließlich unüberbrückbar. Nicht länger wollten die protestierenden Kinder des "roten Adels" glauben, dass vieles von dem, was sie einforderten, zwar erstrebenswert, aber noch nicht einlösbar sein sollte. Die Eltern hatten sich in diesem Widerspruch längst eingerichtet. Als der Einmarsch des Warschauer Paktes den Prager Frühling beendete, gingen sie "mit Groll im Herzen und einem unguten Gefühl in der Magengrube dorthin, wohin sie die Partei befohlen hatte", so Stefan Wolle. Ihre Kinder aber "zogen los, um Flugblätter zu schreiben. Der Zusammenstoß von Utopie und Wirklichkeit war zum Generationskonflikt geworden."
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