Ein Spannungsverhältnis

Nordrhein-Westfalen Die ­Gewerkschaften pochen einmal mehr auf ihre parteipolitische Neutralität. Und machen wie immer trotzdem Wahlkampf

"Seit 1949 hat der Deutsche Gewerkschaftsbund einmal dezidiert zur Wahl der SPD aufgerufen“, sagt Guntram Schneider. Es ist als schlechtes Beispiel gemeint, es soll eine Abgrenzung sein: „Das Ergebnis war eine absolute Mehrheit für Konrad Adenauer.“

Man hört solche Sätze oft in diesen Tagen. Wieder und wieder hat der Dachverband vor der Wahl in Nordrhein-Westfalen seine Überparteilichkeit betont. „Wir lassen uns nicht vereinnahmen“, verspricht der DGB-Landeschef, „sondern bleiben unabhängige politische Kraft.“ Aber was heißt das denn? Die Frage stellt sich, wenn der Obergewerkschafter im Schattenkabinett der SPD-Spitzenkandidatin sitzt; wenn der allgemeine Hinweis auf die Interessen der Arbeitnehmer kaum verdeckt, dass man Rot-Grün für die Wunschkoalition hält und wenn die Betriebsräte großer Konzerne dazu aufrufen, den Sozialdemokraten die Stimme zu geben.

Schneiders historisches Beispiel stammt von 1957, die CDU warnte seinerzeit, ein Sieg der Sozialdemokraten würde das Ende Deutschlands bedeuten. „Zwischen dem Anspruch, sich in politische Auseinandersetzungen einzumischen und dem Gebot parteipolitischer Neutralität“, blickt man beim DGB auf diese Zeit zurück, „bestand während der Regierungszeit Adenauers ein stetes Spannungsverhältnis.“

Auf heimischen Parkett

Es bestand auch in all den Jahren danach. Das Thema bewegt immer wieder, es hat mit dem historisch begründeten Selbstverständnis der Einheitsgewerkschaft genauso zu tun wie mit dem SPD-Mitgliedsbuch, das viele Funktionäre von IG Metall, Verdi und Co. immer noch bei sich tragen – trotz aller Enttäuschungen durch die Schröder-Partei. Und so ist die Geschichte der parteipolitischen Vorlieben des DGB im Jahr 2010 auch eine der Wiederannäherung an die Sozialdemokraten.

Nicht noch einmal dürfe der Graben so tief, der Abstand so weit werden, „wie das in den letzten Jahren der Fall gewesen ist“, hat SPD-Chef Sigmar Gabriel unlängst bei einer Betriebsrätekonferenz gesagt. Veranstaltungen wie diese, die Oppositionsrolle im Bundestag, ein Arbeitsmarktpapier, die Wiederentdeckung des flächendeckenden Mindestlohns – das stiftet neue Gemeinsamkeit. Auf den DGB-Kundgebungen am 1. Mai bewegten sich Sozialdemokraten wieder wie auf heimischem Parkett. Vergessen die Zeiten, in der SPD-Politiker grollend gar nicht ein- oder demonstrativ wieder ausgeladen wurden.

Vergessen? Nicht bei allen. Klaus Ernst und Werner Dreibus etwa, zwei IG-Metall-Funktionäre, die aus Protest gegen die Agenda-Politik erst die Wahlalternative gründeten und dann in der Linkspartei Karriere machten. Kurz vor dem 1. Mai beschwerten sich die zwei Bundestagsabgeordneten beim „Lieben Guntram“, weil die traditionellen Gewerkschaftskundgebungen vom DGB „als Wahlkampfveranstaltungen für Rot-Grün missbraucht“ würden. Mehr noch: „Auf Redner der Linken scheint bewusst verzichtet worden zu sein“, beklagten Ernst und Dreibus. „Der Vorwurf geht ins Leere“, konterte der DGB. Eine landesweite Planung, welche Politiker wo sprechen, gebe es beim Dachverband nicht. Und im Fall der Wittener Mai-Kundgebung, bei der das rot-grüne Spitzenduo Gabriel und Claudia Roth auftrat, sei die Linke mit ihrem Vorschlag, auch Oskar Lafontaine einzuladen, schlicht und einfach zu spät gekommen.

Wobei man sich trotzdem fragt, wie ein Ministeranwärter und Sozialdemokrat, der für die SPD zu Bundestagswahlen angetreten ist, den Organisationsanspruch parteipolitischer Neutralität mit sich selbst ausmacht. Die Abgrenzung zur Linken zum Beispiel, deren Wahlprogramm mit vielen gewerkschaftlichen Forderungen kompatibel ist, lässt sich kaum übersehen. Guntram Schneider macht es wie viele Gewerkschafter: Er sagt, welche Parteien der DGB nicht gern in Regierungsverantwortung sieht – eine umgekehrte Wahlempfehlung. Man kommt per Ausschlussverfahren zum Ziel.

1,6 Millionen Wähler

An Rhein und Ruhr sei „Schwarz-Gelb für die Arbeitnehmer und ihre Interessen die schlechteste Lösung“, sagt Schneider. Und der Linken wirft er vor, „spätpubertäre politische Überlegungen“ zu pflegen, „die mit der konkreten Landespolitik wenig zu tun haben“. Der Chef der als „pragmatisch“ geltenden Gewerkschaft IG BCE erklärt, „welche Konstellation von SPD, CDU, Grünen und SPD am 9. Mai herauskommt, entscheiden die Wähler.“ Auf den Vorhalt, er habe die Linke ausgeklammert, sagte Michael Vassiliadis, diese Partei habe „keine industriepolitische Kompetenz“.

Das sieht man bei der Initiative „Wir wählen links“ natürlich anders – und verweist auf Forderungen wie nach dem Zukunftsinvestitionsprogramm und einem Industriefonds für NRW. Betriebsräte und Gewerkschaftssekretäre unterstützen die Kampagne, nicht wenige mit dem Mitgliedsbuch der Linken. So, wie hinter dem Aufruf „Eine bessere Politik für NRW“, der die Wahl von Hannelore Kraft empfiehlt, Arbeitnehmervertreter stehen, die der SPD angehören.

Darüber, wie erfolgreich jener mehr oder weniger offene Wahlkampf ist, der mit gewerkschaftlichem Attribut um Stimmen wirbt, kann man nur spekulieren. In Nordrhein-Westfalen, dem siebzehntgrößten Industrieland der Welt, wie Schneider stolz betont, zählt der DGB rund 1,6 Millionen Mitglieder. Ein Wählerpotenzial, das ins Gewicht fällt. Bei den letzten Landtagswahlen kam die SPD unter Gewerkschaftsmitgliedern auf eine satte absolute Mehrheit, die CDU von „Arbeiterführer“ Jürgen Rüttgers nur auf 28 Prozent. Die Wirklichkeit sah anders aus – die Sozialdemokraten verloren im Mai 2005 nicht nur Nordrhein-Westfalen, die Parteispitze schlug an jenem Tag den Weg der Neuwahlen ein, welcher die SPD dann die Kanzlerschaft kostete.

Abgesehen davon ist über ein wichtiges Erfolgskriterium bei Wahlstatistiken nichts gesagt. Was nützt es Gewerkschaften, wenn sie einer Parteienkonstellation den Vorzug geben, die dann eine Politik betreibt, welche sich unter dem Strich doch gegen die DGB-Ziele richtet? Von der traditionellen Nähe zu den Sozialdemokraten haben sich die Gewerkschaften nach 1998 nur wenig kaufen können. Die Delegation eigener Ziele an einen parteipolitischen Partner hatte sich als Einbahnstraße herausgestellt.

Kampagne über den Wahltag hinaus

Auch deshalb sucht die Gewerkschaft Verdi in Nordrhein-Westfalen inzwischen neue Wege. Seit Anfang des Jahres läuft dort die Kampagne „Weiter so war gestern“, die zwar auf die Landtagswahl zugeschnitten ist, aber nicht mit ihr enden wird. Die Forderung nach einem „Politikwechsel“ soll nicht bei der Bewertung der noch am ehesten in Frage kommenden Parteien stehen bleiben. Sie zielt auf mehr, auf die Mobilisierung einer eigenen gewerkschaftlichen Position. Und eben auch um Autonomie gegenüber den Parteien. Es gab Kommentatoren, die angesichts der Aktion bereits von einem gewerkschaftlichen Schritt aus der gesellschaftspolitischen Defensive sprachen.

Die Verdi-Kampagne läuft noch, wenn nach dem 9. Mai die Ergebnisgrafiken längst archiviert sind. DGB-Landeschef Schneider wird dann wissen, ob er tatsächlich ins Amt des Arbeitsministers gehoben wird. Der Dachverband müsste sich dann einen neuen Vorsitzenden suchen. Er ist schließlich parteipolitisch unabhängig.

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