Nicht unten, sondern draußen

Porträt Heinz Hilgers ist seit 18 Jahren Cheflobbyist aller Knirpse in Deutschland. Ein Thema hat ihn von Anfang an verfolgt: die Kinderarmut

Vor einem Monat wies ein UN-Bericht „tief besorgt“ auf soziale Missstände in Deutschland hin. Ein Vorwurf: Jeder vierte Schüler gehe ohne Frühstück aus dem Haus. Die Vereinten Nationen verlangten nachdrücklich „konkrete Maßnahmen“ von der Bundesregierung, damit „Kinder, besonders aus armen Familien, richtige Mahlzeiten erhalten“.

Das Sozialministerium wies die Anschuldigungen jedoch zurück. Der Bericht sei „in weiten Teilen nicht nachvollziehbar“ und nicht „durch wissenschaftliche Fakten belegt“. Vor allem die Aussage zu den Kindern, hieß es dann, gehe auf überzogene und fragwürdige Schätzungen von Attac zurück. Das Netzwerk wiederum soll sich auf einen einzigen Zeitungsbeitrag über eine Münchner Hauptschule gestützt haben. Und der stammte auch noch aus dem Jahre 2008.

Präsident seit 1993

Ist die Lage also doch gar nicht so schlimm? Mitnichten, findet Heinz Hilgers. Schon seit Jahren weist der Mann aus Dormagen auf das Problem hin, kritisiert die Parteien. Als Sozialdemokrat und langjähriger Landtagsabgeordneter fällt ihm das womöglich bei schwarz-gelben Regierungen leichter. Doch auch die SPD blieb in der Vergangenheit nicht verschont. Und was den Bericht der Vereinten Nationen angeht, kann der 63-Jährige notfalls auf zahlreiche frühere Studien verweisen: „Es wächst die Zahl von Kindern, die nicht unten sind, sondern draußen. Das sind die Kinder, die keine Hoffnung mehr haben.“

Das zu sagen, wieder und wieder, ist Hilgers Job. Der Mann, der einst eine Ausbildung in der Verwaltung machte und später als Jugendamtsleiter tätig war, ist der Cheflobbyist der Knirpse in Deutschland. Seit über 18 Jahren.

1993 ist Hilgers Präsident des Deutsche Kinderschutzbund geworden. Der Verband war 1953 von einem Hamburger Arzt gegründet worden, blieb jedoch lange Zeit politisch bedeutungslos. Man engagierte sich vor allem für den „Schutz unserer Kinder vor Triebverbrechern und anderen Gefahren“ – und forderte Haarsträubendes: Wer sich einer Kindesmisshandlung strafbar gemacht hatte, sollte in ein Arbeitslager eingewiesen oder auf eine ferne Insel verbannt werden. Erst in den siebziger Jahren löste sich der Bund von seiner Vergangenheit – und agierte fortan vorrangig als sozialpolitische Organisation.

Was nicht heißt, dass Hilgers zum Hickhack um die Neuregelung der Sicherungsverwahrung nichts beizutragen hätte. Gerade erst hat er davor gewarnt, den „politischen Streit auf dem Rücken schutzloser Kinder auszutragen“ und eine rasche Reform angemahnt. Der Vater von drei Söhnen geht auch dazwischen, wenn die Seniorenunion mal wieder den Krach auf Spielplätzen beklagt oder ein Vorschlag für kinderfreie Zonen in Cafés die Runde macht. Ganz oben auf der Liste steht aber meist etwas anderes: die soziale Lage des Nachwuchses.


Das Thema verfolgt Hilgers. Man könnte auch sagen: Er ist es in all den Jahren nicht losgeworden. Weil die Politik zwar gern von den künftigen Generationen redet, um Sparmaßnahmen zu begründen, für die Lage jener Generation, deren Zukunft sich gerade entscheidet, dann aber doch zu wenig oder das Falsche tut. Der Kongress, auf dem Hilgers 1993 zum Präsidenten des Kinderschutzbundes gewählt wurde, stand unter dem Motto „Reiches Land – Arme Kinder“. Es ging um die Folgen der Wegrationalisierung von Stellen, um Wohnungsnot sowie den Abbau staatlicher und kommunaler Sozialleistungen – und was das vor allem für die Kinder bedeutet.

Seither hat es Dutzende von Programmen und Gesetzesänderungen gegeben, ungezählte Male wurde Besserung gelobt, viel Geld wurde ausgegeben. Die Zahl der Kinder, deren Möglichkeiten, deren Mittagstisch, deren ganzer Alltag von der Höhe der gerade gezahlten Sozialleistung bestimmt wird, wuchs jedoch weiter. 1993 waren eine Millionen Kinder auf Sozialhilfe angewiesen, heute leben mehr als 1,5 Millionen Kinder von Hartz IV. Und das, obwohl die Zahl der Kinder seit 2000 um zwei Millionen gesunken ist.

Es waren übrigens nicht Attac-Aktivisten, sondern die Forscher der Bundesagentur für Arbeit, die im März ein trauriges Bild der sozialen Lage armer Familien zeichneten: Zwei Prozent der Hartz-Kinder bekommen keine warme Mahlzeit, sechs Prozent leben in feuchten Wohnungen, jede zweite Familie mit Kind konnten es sich nicht leisten, wenigstens einmal im Monat ins Kino zu gehen. An jedem fünften armen Kind zieht die Online-Welt mangels Internet und PC vorbei.

Daran wird auch das so genannte Bildungspaket, das im Zuge der Hartz-Reform im Frühjahr eingeführt wurde, nichts ändern. Hilgers, der in seinen 15 Jahren als Bürgermeister von Dormagen auch Kindersprechstunden abhielt, sieht darin zwar eine kleine Verbesserung. Aber ohne eine deutliche Anhebung der Regelsätze bleiben Zehntausende Kinder chancenlos. „Nicht unten, sondern draußen“, wie es Hilgers formulieren würde. Er fordert die Politik zu einer großen Lösung auf: eine Kindergrundsicherung in Höhe von 500 Euro unabhängig vom Einkommen der Eltern.

Was übrigens die statistische Kinderarmut angeht, liegen seit diesem Mittwoch neue Zahlen vor – ganz offiziell vom Statistischen Bundesamtes. Danach waren 15 Prozent der Kinder armutsgefährdet. Heinz Hilgers wird sein Thema nicht los.

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