Kommen sie nun oder kommen sie nicht? Die derzeitige, das Sommerloch füllende Debatte um Studiengebühren ist auf dem geistigen Niveau eines Wettbüros angelangt. Argumentiert wird nicht mehr inhaltlich "Pro" oder "Contra", etwa unter Bezugnahme auf Bildung und Wissenschaft; gerätselt wird vielmehr darüber, wie wohl das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vermutlich gegen Ende des Jahres über ein noch gültiges bundesweites Studiengebührenverbot befinden wird. Die meisten Prognosen lauten: Es wird kippen! Prophylaktisch beauftragten einige Unionsländer schon mal den (parteilosen) Hamburger Wissenschaftssenator Dräger, für das Jahr 2006 ein Gebührenmodell von circa 1.000 Euro pro Jahr und Nase zu entwickeln. Insgesamt nähern wir uns damit wieder vordemokratischen Verhältnissen. Das BVerfG wird zu einer Art Ersatzmonarch. Es soll als metapolitische Instanz über eine Frage entscheiden, die juristisch gar nicht entscheidbar ist. Dieser Frage liegt ein Thema zugrunde, über das anhaltend und kontrovers in der Gesellschaft gestritten wird, welches folglich nur politisch geklärt, entschieden und verantwortet werden kann.
Sich ins "Unvermeidbare" fügen
Formal geht es bei dem zu erwartenden Karlsruher Orakelspruch um die Frage der "Zuständigkeit". Bayern und Baden-Württemberg hatten unter Hinweis darauf, dass Bildungsfinanzierung Ländersache sei, gegen eine Gesetzesänderung der rotgrünen Bundestagsmehrheit geklagt, die seit 2001 zumindest die Kostenfreiheit des Erststudiums festlegt. Die angebliche Gewissheit nun, dass diese Bestimmung aufgehoben würde, speist sich aus einem gänzlich anders gelagerten BVerfG-Urteil von Ende Juli, das die bundesrechtliche Regelung der so genannten Juniorprofessur aufhob, d.h. Karlsruhe untersagte dem Bund, den Ländern ein Regelmodell für Hochschulkarrieren vorzuschreiben, welches an die Stelle der traditionellen Habilitationsprüfung treten sollte. Kurz danach teilte die grüne Fraktionschefin, Christa Sager, mit, sie rechne gerade nach diesem Urteil damit, "dass auch das bundesweite Verbot von Studiengebühren fällt" - und versuchte gleichzeitig, sekundiert von anderen Parteikollegen, die bildungspolitische Debatte auf die Frage nach dem "besten" und "sozialverträglichsten" Studiengebührenmodell zu verlagern. So funktioniert Diskurspolitik! Die Plausibilität der Schlussfolgerung blieb allerdings völlig unbegründet. Richtig ist zweifellos, dass das Juli-Urteil zum Hochschuldienstrecht die Tendenz eines Abbaus von Bundeskompetenz in der Bildungspolitik stärkt. Ebenso gilt aber, dass beide Verfassungsklagen völlig unterschiedliche Gegenstandsbereiche betreffen. Studiengebühren können schon deswegen nicht umstandslos der regionalen "Kulturhoheit" zugeordnet werden, weil die Einführung von Gebühren in einzelnen Ländern Wanderungsbewegungen auslösen, das Bildungsverhalten auch in anderen Ländern ebenso beeinflussen würde wie die Verteilung von Studierenden zwischen ihnen.
Kurz: Die Angelegenheit ist auch unter Fachjuristen höchst umstritten. Ungeachtet dessen bleibt der Kern des Problems politischer Natur. Die Frage, warum das relativ inkompatible Urteil zum Hochschuldienstrecht unter etlichen rotgrünen Spitzenpolitikern eine Kettenreaktion des Bekenntniszwangs zur "Unvermeidbarkeit" von Studiengebühren ausgelöst hat, lässt sich relativ leicht beantworten. Der Hinweis auf eine ihnen durch Karlsruhe aufgezwungene externe "Sachzwanglogik" ermöglicht es ihnen, sich sehr komfortabel aus ihrer eigenen politischen Verantwortung zu schleichen. Der Hintergrund dafür ist offensichtlich: die gleichen Politiker haben sich längst in diese "Unvermeidbarkeit" gefügt, sei es aus politischer Erschöpfung, sei es, weil sie selbst in ihrem inneren Herzen Gebühren wollen. So wie etwa der grüne Staatssekretär und Agrarexperte Matthias Berninger, der das Dienstrechtsurteil des BVerfG zum Anlass nahm, der Öffentlichkeit gleich ein komplettes Finanzabwicklungs- und Bankenmodell zum Inkasso von Studiengebühren vorzustellen.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis ein sozialpolitisches Klima, das von der Agenda 2010 und Komponenten wie "stärkere finanzielle Selbstbeteiligung", "Eigenverantwortung" und Kürzung staatlicher Transfers geprägt ist, auch den Bildungssektor erreicht. Um nichts anders geht es zunächst bei Studiengebühren. Dieses hochschulpolitische Dauerthema ist zugleich ein Lehrbuchbeispiel dafür, wie eine Politik des "kleineren Übels" dem weitaus größeren, das dadurch verhindert werden soll, eigentlich erst zum Durchbruch verhilft. Ein generelles gesetzliches Verbot von Studiengebühren gehörte - ebenso wie die Reform des Hochschuldienstrechtes - zu den zentralen hochschulpolitischen Wahlkampfversprechen von Rotgrün 1998. Nach Regierungsantritt jedoch wurden ständig ausgedünnte Rückzugsoptionen des ursprünglichen Versprechens präsentiert. Dieses sollte auf einmal nur noch für das "Erststudium" gelten. Schließlich wurde der Begriff des Erststudiums näher "qualifiziert": als eine begrenzte Anzahl von Semestern oder Lehrveranstaltungsstunden. Auch das aktuell gültige bundesgesetzliche Gebührenverbot lässt entsprechende großzügige "Ausnahmen durch das Landesrecht" zu. Das faktische Ergebnis war absehbar: ein bundesweit kaum noch überschaubares Gestrüpp an immer neuen Gebührenvarianten in den Ländern: Verwaltungs-, Zweitstudiums-, Langzeitstudiengebühren, Gebühren für das Seniorenstudium. Jede dieser Rückzugsoptionen wurde mit dem Motiv, dadurch "richtige" Studiengebühren verhindern zu können, gerechtfertigt. In Wirklichkeit wurden sie infolge der so ausgelösten politischen Dynamik immer wahrscheinlicher.
Auf einen Karlsruher Zauberspruch warten
Durch die künstliche Verknappung öffentlich finanzierter Hochschulangebote setzt sich gleichzeitig unter der Hand ein stärker kalkulierendes und ökonomisch geprägtes Verständnis von Bildung und Studium durch. Darüber wird viel zu wenig diskutiert. Die Debatte um Studiengebühren konzentriert sich auf sozial- und finanzpolitische Aspekte, die wichtig, aber eben nicht alles sind. Studiengebühren sind der zentrale Baustein in einem neuartigen Hochschulmodell, das anstelle der traditionellen akademisch-politischen Selbstverwaltung über Management, Markt und Wettbewerb funktioniert. In der herrschenden Bildungsökonomie erfüllen Studiengebühren buchstäblich die Funktion einer "individuellen Investition in das eigene Humankapital", deren return of investment ein späteres Markteinkommen ist. Damit sind sie nicht nur ein Finanzierungsbeitrag, sondern auch ein Steuerungselement, mit dem das individuelle Bildungsverhalten stärker auf seine künftige Verwertbarkeit hin ausgerichtet wird. Die Betriebswirtschaftslehre beherrscht so die Bildungspolitik, die Dominanz kurzfristiger und konkurrenzförmiger Kalküle minimiert den gesellschaftlichen Nutzen von Bildung und Wissenschaft. Das ist ein wesentlicher politischer Grund, Studiengebühren zu verhindern. Darüber sollte die öffentliche Debatte geführt werden, statt ein halbes Jahr und länger auf einen erlösenden Zauberspruch aus Karlsruhe zu warten.
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