Am Rande Europas tobt ein Krieg. Wie könnte sich die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) auf ihrem Gipfel in Istan bul da nicht mit dem russischen Militäreinsatz in Tschetschenien beschäftigen? Moskaus Vorgehen im Kaukasus ist völkerrechtlich legitim. Dennoch bleibt es ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zeigt einmal mehr, welch begrenzten Wert das im Kosovo-Krieg überstrapazierte Völkerrechtsargument besaß. Die OSZE hat dem nun Rechnung getragen und Russland bescheinigt, dass der Kaukasus-Konflikt eine innere Angelegenheit darstellt. Gleichzeitig will (und wird) die OSZE vermittelnd eingreifen, damit also genau das tun, was sich zu verbitten sie den Russen gerade gestattet hat.
Weder Fisch, noch Fleisch - mit diesem Zustand muss die OSZE nicht erst seit ihrer Umbenennung 1995 leben. Gegründet mitten im Kalten Krieg als "Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" (KSZE), entwickelte sie sich zu einer einzigartigen regionalen Sicherheitsorganisation. Einzigartig nicht nur wegen ihres geographischen Geltungsbereichs von Vancouver bis Wladiwostok mit heute 55 Staaten, sondern vor allem wegen ihres umfassenden und kooperativen Ansatzes. Der bestimmt Sicherheit über das Politisch-Militärische hinaus auch als ökonomische, humanitäre und ökologische Sicherheit, die als unteilbares Gut nur von allen Akteuren gemeinsam gewährleistet werden kann. Utopisch?
In Europa immerhin hat diese Utopie Mauern zum Einsturz gebracht. Ohne den Helsinki-Prozess wären die friedlichen Revolutionen in Mittelosteuropa nicht denkbar gewesen. Kein Wunder also, dass die Europäer nach dem Mauerfall in eine sicherheitspolitische Euphorie verfielen und mit der 1990 in Paris angenommenen "Charta für ein Neues Europa" die KSZE zu institutionalisieren suchten. Getragen von der Hoffnung, der Welt ein Beispiel zu geben, und geplagt von der Furcht, die jahrzehntelang unterdrückten nationalistischen Geister der Vergangenheit könnten den alten Kontinent in eine Art sicherheitspolitische Barbarei zurückwerfen.
Die Angst war berechtigt. Der unaufhaltsame Zerfall des sowjetischen Imperiums und die rapide Erosion Jugoslawiens ließen zahlreiche ethnische, religiöse und Grenzkonflikte in einem Raum aufbrechen, der sich gerade anschickte, zu neuen sicherheitspolitischen Ufern aufzubrechen. Ein Zufall? Auf jeden Fall fehlte es der OSZE trotz fortschreitender Institutionalisierung und Professionalisierung an Mitteln, Kraft und Kompetenz, die wachsende Zahl gewaltsamer Konflikte in ihrem Einzugsgebiet zu beherrschen. Nicht, dass man völlig macht- und erfolglos gewesen wäre: Ohne OSZE-Missionen in Mazedonien, im Baltikum oder in Tadschikistan gäbe es in Europa heute einige blutige Konflikte mehr. Doch bei den schwersten europäischen Tragödien in Bosnien und im Kosovo hat die OSZE versagt, meinen die einen. Ist sie absichtsvoll vorgeführt worden, sagen andere. Richtig ist, dass die OSZE in beiden Fällen an die Grenzen ihrer Möglichkeiten stieß. Richtig ist aber auch, dass sie sich bei der zivilen Umsetzung des von der NATO herbeigebombten Daytoner Friedensvertrages bewährt hat - und dass erst der erzwungene Abzug von OSZE-Beobachtern aus dem Kosovo den Weg für erneute NATO-Bomben frei machte.
Noch 1996, auf ihrem Gipfel in Lissabon, gaben die Staats- und Regierungschefs der OSZE ein weitreichendes Mandat als Dachorganisation europäischer Sicherheit. Davon ist in der "Europäischen Sicherheits-
charta" des Istanbuler Gipfels keine Rede mehr. Die OSZE scheint von Atemnot geplagt zu sein und soll sich als eine Art sicherheitspolitische Schaltstelle auf das Machbare konzentrieren. Vor allem im Bereich der zivilen Konfliktbewältigung. Damit bleibt das Glas - je nach Sichtweise - halb voll oder halb leer. Halb voll für alle, die befürchten, der kooperative und präventive Sicherheitsansatz der OSZE würde von NATO und EU ganz an den Rand gedrückt werden. Halb leer für all jene, die auf ein sicherheitspolitisches ranking hofften, mit dem vor allem die neue NATO in die Schranken gewiesen werden kann.
Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so. Europa erlebt gegenwärtig einen sicherheitspolitischen Konkurrenzkampf, der allenfalls das Rüstungsgeschäft belebt. Die NATO sieht sich für Sicherheit und Krisenbewältigung im euro-atlantischen Raum zuständig. Ein Gebiet, das nicht genau definiert ist - auf jeden Fall aber über die Bündnisgrenzen hinaus reicht. Gleichzeitig schickt sich die EU an, eine Sicherheits- und Verteidigungsidentität auszubilden. Die wird den besorgten Amerikanern als gleichberechtigter europäischer Pfeiler der NATO verkauft, läuft aber de facto auf eine eigenständige europäische Militärmacht hinaus. Der britische Vorschlag, bis 2003 eine europäische Kriseneingreiftruppe zu schaffen und dem neuen europäischen "Außen- und Verteidigungsminister" (was für eine bizarre Kombination!) - Ex-NATO-Generalsekretär Solana - ein Mandat zu erteilen, damit dieser einen institutionellen Rahmen entwirft, sind deutliche Schritte in diese Richtung. Mit ihrem kooperativen, zivilen und präventiven Sicherheitsansatz wirkt die OSZE da fast schon wie ein Anachronismus. Wenn es ihr dennoch gelänge, sich in dem verschärften sicherheitspolitischen Konkurrenzkampf als gleichberechtigter Faktor oder gar als Schaltstelle zu behaupten, wäre das allemal ein Achtungserfolg. Der Gipfel in Istanbul ist daher nicht am großen sicherheitspolitischen Wurf, sondern an ganz konkreten Schritten zu messen, mit denen die OSZE ihre Position stärkt - durch ein effektiveres Peace-keeping-Regime beispielsweise oder den Aufbau ziviler Krisenreaktionskräfte.
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