Warum hat Wolfgang Gehrcke vor fünf Jahren auf dem PDS-Parteitag in Münster einen Antrag unterstützt, der das militärische Engagement der UNO in Osttimor begrüßte, das Gewaltmonopol der UNO damit anerkannt hat und darüber hinaus dafür plädierte, im Einzelfall - also politisch! - zu entscheiden, wie sich die PDS zu UN-Blauhelm-Missionen verhält? War er falscher Analyse aufgesessen? Oder hat sich die Welt seit damals so grundlegend verändert, dass er heute anderer Meinung ist - ja, sein muss - als damals?
Nichts von alledem, obwohl sich natürlich einiges verändert hat. Die politische Argumentation der Minderheit auf dem Parteitag von Münster im April 2000 war damals so logisch, stichhaltig und politisch korrekt wie heute. Sie entsprang einer ganz einfachen Frage: Wie kann sich eine Linke hinstellen und die Stärkung der UNO als Instrument kollektiver Sicherheit gegen die unilateralen Anmaßungen von NATO, USA und EU fordern, wenn sie zugleich wichtige Instrumente dieses kollektiven Sicherheitssystems grundsätzlich ablehnt? Wohl gemerkt: Es ging und geht um die Festlegung im Grundsatz, nicht um den Einzelfall.
In Osttimor war es eine von der indonesischen Armee bedrängte Befreiungsbewegung, die völlig zu Recht auf ein Peace Keeping der UNO drängte, um weiteres Morden zu verhindern. Dieser konkrete Fall lag damals so klar, dass die PDS-Fraktion im Bundestag - gefragt von anderen, ob sie einen entsprechenden Antrag unterstützen würde -, sich prinzipiell positionieren musste, um für diesen Einzelfall eine glaubwürdige Entscheidung treffen zu können.
Damals hatte auch Wolfgang Gehrcke eine Sicht auf das UN-Gewaltmonopol, die sich sehr von dem unterscheidet, was er heute verkündet. In dem von ihm beschriebenen Grundsatz sind wir uns nach wie vor einig: "Das Gewaltmonopol des Sicherheitsrates heißt nichts anderes, als dass kein Staat es für sich in Anspruch nehmen kann." Soweit die grundlegende Idee kollektiver Sicherheit. Was aber, wenn sich Staaten oder Regimes nicht daran halten? Dann - so Gehrcke heute - realisiert sich das Gewaltmonopol dadurch, "dass es nicht angewandt wird". Das heißt: Die UNO schaut grundsätzlich zu, zählt hinterher die Toten und debattiert bestenfalls über eigene Versäumnisse im Vorfeld der Katastrophe. Was, bitteschön, ist daran links?
Natürlich wird die Welt nicht von Prinzipien, sondern von Interessen und Kräfteverhältnissen geprägt. Wer diese Binsenweisheit vernachlässigt, muss sich zu Recht blauäugig nennen lassen. Selbst das beste UN-Regelwerk zur Konfliktbeilegung kann missbraucht werden - und wird missbraucht. Das gilt übrigens auch für viele nicht-militärische Instrumente zur Konfliktprävention. Daraus aber den vermeintlich linken (Kurz-)Schluss einer UNO à la carte zu ziehen, bleibt absurd.
Zu wissen, dass UN-Blauhelme einen akuten Konflikt entschärfen können (hier reicht ein Blick auf den Nahen Osten), dass Blauhelme Leben retten und Zukunft ermöglichen können - und sich dessen ungeachtet dennoch den Luxus zu leisten, in jedem dieser Fälle Nein zu sagen, ist nicht links, sondern bestenfalls Ausdruck parteipolitischen Kalküls.
Gehrcke schreibt selbst: "Die völkerrechtliche Basis, das heißt, ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates ist wichtig, aber letztlich nicht allein entscheidend für eine Positionsbestimmung der Linken." Genau darum geht es! Und um die Mühe, die sich Linke im Einzelfall machen müssen, wenn sie zwischen völkerrechtlich legitim und politisch geboten unterscheiden wollen.
Wolfgang Gehrcke rettet sich aus diesem Konflikt mit seinem Postulat eines "politischen Pazifismus", der derzeit nirgendwo außer in der Linkspartei eine Heimat findet. Er nennt es "konsequente Ablehnung von Gewalt als Mittel der Politik" - und weiß doch, dass jede Politik nichts anderes ist als die Anwendung zumindest struktureller Gewalt. Einen Mörder zu verurteilen und einzusperren heißt, ihm Gewalt anzutun - zum Schutz des Gemeinwesens.
Gehrcke schreibt: "Die Linke ist heute eine Antikriegslinke - oder sie ist nicht links." Und er begründet dies mit dem Verlust solcher Positionen bei SPD und Grünen. Damit stellt er der Linkspartei - indirekt und ungewollt - ein politisches Armutszeugnis aus. Und er gibt nebenbei seinen Kritikern von Münster postum Recht, die nach dem Motto argumentierten: Ihr seid auch nicht besser. Wenn wir heute A sagen, werdet ihr morgen B fordern und uns übermorgen in den Krieg führen. Das war schon damals ein Totschlagargument, dem Gehrcke jetzt nachträglich ein argumentatives Korsett einzieht, das nicht stützt, sondern einschnürt.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es gibt Zeiten, da wird eine Linke als Kraft gebraucht, die einfach nur Nein sagt. An Karl Liebknechts Ablehnung der Kriegskredite sei hier als historisches Beispiel erinnert. Und vielleicht sind wir ja jetzt in einer solchen Situation. Aber sich und anderen aus wahltaktischen Gründen grundsätzlich und wider besseren Wissens strategisch und politisch in die Tasche zu lügen, ist nicht nur unredlich, sondern überdies verdammt gefährlich. Denkt man Wolfgang Gehrcke zu Ende, dürften UN-Blauhelme nicht einmal Kindernahrung in Kriegsgebieten verteilen.
Hätte sich die PDS in den vergangenen 15 Jahren innenpolitisch so dogmatisch verhalten, wie es Gehrcke heute außenpolitisch für geboten hält und begründet - sie wäre längst marginalisiert.
Es geht auch anders. Oskar Lafontaine hat sich Anfang der neunziger Jahren in der SPD prononciert für Peace Keeping stark gemacht. Das hindert ihn heute nicht daran, den völkerrechtlich legitimen ISAF-Einsatz in Afghanistan politisch abzulehnen. Mit dem Argument, dass solche UN-Missionen nicht dazu missbraucht werden dürfen, die Trümmer verfehlter US-Politik wegzuräumen. Ob das - im Sinne der Betroffenen vor Ort - richtig oder falsch ist, darüber kann man streiten. Aber es ist eine Haltung, die keine politischen Placebo-Grundsätze braucht, um im Einzelfall klar, bestimmt und glaubhaft zu sein. Allein darum geht es.
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