Scheidung Mit Gewalt

Kommentar Nahost - Der Heilige Geist von Camp David

Es gibt Ereignisse, denen sich keine politische Führung entziehen kann. Selbst wenn Ariel Sharon wollte - tatenlos könnte er angesichts der Selbstmordanschlagserie in Israel nicht bleiben. Dasselbe gilt für Arafat. Auch der muss reagieren auf die israelischen Luftangriffe, die Killerkommandos, die Besetzung, die toten Palästinenser. Aber wie? Arafat sind die Hände gebunden. Er kann die eigenen Extremisten nur mit brachialer Gewalt niederhalten. Wenn gleichzeitig israelische Truppen in den Autonomiegebieten Jagd auf mutmaßliche und tatsächliche Selbstmord-Drahtzieher machen, stellen sie den Palästinenserchef vor die Wahl zwischen Pest und Cholera. Entweder er greift hart nach innen durch - und riskiert einen palästinensischen Bürgerkrieg. Oder er reagiert halbherzig, lässt die Extremisten in den eigenen Reihen gewähren - und riskiert weitere Eskalation. In beiden Fällen könnte dies sein Ende bedeuten.

Politisch hat die Sharon-Regierung Arafat abgeschrieben. Er sei kein Partner mehr, seine Autonomiebehörde eine "Terrororganisation", gegen die man entsprechend vorgeht. Für eine Weile stieß auch die Europäische Union in dieses Horn und mahnte den PLO-Chef, energischer durchzugreifen. Derart isoliert, hat Arafat schließlich reagiert, den Ausnahmezustand verhängt, Büros radikaler Palästinenserorganisationen geschlossen und weitere Selbstmordanschläge "verboten". Wenn das so einfach sein sollte, fragt man sich, warum dann nicht früher?

Für Sharon ist diese Geste Arafats ein Teilerfolg. Einen derart geschwächten Palästinenserchef könnte man sich auch wieder als Gesprächspartner vorstellen, heißt es vorsichtig aus Jerusalem - während weiterhin israelische Panzer auf palästinensisches Autonomiegebiet rollen und Raketen in Gaza einschlagen. Sharon, das ist völlig klar, nutzt die Gunst der Anti-Terror-Stunde - und hat dabei die volle Unterstützung Washingtons. Nur die EU rudert vorsichtig zurück. Doch es scheint, dass man sich in Brüssel primär um die Zerstörung der von Europa finanzierten palästinensischen Infrastruktur sorgt.

Diese Situation macht vor allem eins deutlich: Wenn Amerika nicht willens und Europa nicht fähig ist, durch entsprechenden Druck mäßigend auf beide Konfliktparteien einzuwirken, dann diktieren regionale Kräfteverhältnisse das Geschehen vor Ort. Und die sind nicht nur eindeutig, sie lassen auch nur einen Schluss zu: Es ist an Sharon endlich zu zeigen, wohin er die Auseinandersetzung politisch zu steuern gedenkt - erst recht nach einem "Sieg" in seinem Anti-Terror-Feldzug.

Nüchtern betrachtet hat er vier Optionen: Erstens die Rückkehr als Besatzungsmacht. Mehr Sicherheit verspricht das nicht, und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis in Israel wieder Stimmen laut werden, die diesen Status in Frage stellen. Zweitens die sogenannte Bantustan-Variante eines lebensunfähigen palästinensischen Gebildes an der Seite Israels. Auch hier wären gewaltsamer Widerstandes und erhöhte Unsicherheit programmiert. Drittens die Vertreibung der Palästinenser - völlig undenkbar, dass dies hingenommen würde, auch wenn israelische Rechtsaußen immer wieder laut von einer solchen "Lösung" träumen. Und viertens die einseitige Durchsetzung dessen, was Sharons Vorgänger, Ehud Barak, den Palästinensern in Camp David angeboten hatte. Das hieße im Kern: Es entstünde ein bedingt souveräner palästinensischer Staat auf etwa 95 Prozent der umstrittenen Gebiete mit Teilen Ost-Jerusalems als Hauptstadt. Ein Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge nach Israel gäbe es hingegen nicht.

Sicher: Auch diese erzwungene Scheidung würde auf Widerstand stoßen - zumal ein solcher Staat ohne Hilfe von außen zunächst kaum lebensfähig wäre. Viel mehr dürfte jedoch unter den gegebenen Umständen ohnehin nicht drin sein. Camp David versprach keine Lösung des palästinensisch-israelischen Konfliktes, schon gar keine gerechte. Die lässt sich nicht am grünen Tisch nicht vereinbaren. Aber Camp David war eine Chance auf friedlichere Entwicklung und zivilere Konfliktregulierung. Diese späte Einsicht wächst auch unter den Palästinensern.

Ariel Sharon hätte jetzt die Macht, den Palästinensern Camp David zu diktieren. Dass er dies tut, ist eher unwahrscheinlich. Hieße es doch, jüdische Siedlungen aufzugeben und die Verhältnisse in Jerusalem zu akzeptieren. Die Stadt ist de facto gespalten ohne physisch geteilt zu sein. Für die jüdischen Einwohner ändert sich wenig, wenn im Ostteil die palästinensische Fahne weht. Die Palästinenser hingegen hätten ihr Symbol und erheblich mehr Rechtssicherheit.

Statt dessen setzt Sharon auf militärische Stärke. Aber nicht nur das. Seine Politik der eisernen Faust bleibt zudem ohne erkennbare politische Strategie. Sie ist kurzsichtig und schweißt bestenfalls die palästinensische Notgemeinschaft enger an Arafat. Schlimmstenfalls erreicht der Likud-Hardliner genau das Gegenteil seiner proklamierten Absicht. Israel wird dann noch mehr Terroropfer zu beklagen haben.

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