Wenn Politiker nicht mehr weiter wissen, kommen sie auf die abenteuerlichsten Gedanken. Die einen treten zurück, andere wechseln in die Wirtschaft und wieder andere wollen das Volk fragen. So wie Günter Verheugen. Das heißt: Eigentlich wollte der nur mal laut darüber nachgedacht haben, ob es bei weitreichenden Entscheidungen wie der EU-Osterweiterung nicht vielleicht doch gut wäre, den Souverän direkt um seine Meinung zu bitten. Vorausgesetzt, er hat eine.
Plebiszite gelten den einen als Gefahr, anderen dagegen als hohe, wenn nicht gar höchste Form der Demokratie. Beides stimmt so nicht. Richtig ist dagegen: Es gibt politische Entscheidungen, bei denen das Volk auch außerhalb des Vier-Jahres-Rhythmus befragt werden sollte. Am 28. September stimmen beispielsweise die Dänen darüber ab, ob ihr Land der Euro-Zone beitritt oder nicht. Der Ausgang ist offen, er wird knapp ausfallen. Plebiszite bieten per se keine Gewähr für »korrekte« Entscheidungen. Erst recht nicht, wenn sie in einem politischen Klima stattfinden, das es dem Einzelnen fast unmöglich macht, seine Interessen sachkundig zu bestimmen.
Genau auf dieses demokratische Defizit zielte Verheugens Vorstoß, wenn man ihn positiv interpretiert. Schon die Einführung des Euro war in Deutschland eine elitäre Angelegenheit. Das Volk wurde nicht gehört. Wäre es um seine Meinung gebeten worden, hätte sich das Projekt einer Europäischen Währungsunion wahrscheinlich schnell erledigt. Weil die politische Klasse das wusste, weil sie dem deutschen Michel auch 50 Jahre nach Kriegsende besser nicht über den teutonischen Trampelpfad trauen wollte, wurde der arme Kerl gar nicht erst gefragt. Wer das ganze Verfahren dennoch kritisierte - wofür es gute Gründe gab -, musste höllisch aufpassen, nicht in die nationalistische Ecke gestellt zu werden. (Ganz nebenbei: Warum ist eigentlich niemand auf den Gedanken gekommen, den NATO-Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns zum Gegenstand einer Volksabstimmung in den Ländern der Allianz zu machen?)
Bei der EU-Osterweiterung sieht es ähnlich aus. Der Bürger fühlt sich - zu Recht - übergangen. Ist doch schon die bestehende EU der 15 Staaten für die meisten ein Buch mit sieben Siegeln, ein bürokratisches Ungeheuer mit absurden Verordnungen über Krümmungsgrade von Bananen. Wie stark die Brüsseler Entscheidungen unseren Alltag prägen, wird den wenigsten bewusst. Wäre es so, würde der Europapolitik viel größeres mediales und parlamentarisches Gewicht zukommen als bisher.
So aber entsteht reichlich Humus für populistischen Nährboden. Und für absurde politische Gemengelagen. Der grüne Außenminister hat nämlich recht, wenn er das Schreckgespenst einer deutschen Volksabstimmung über den EU-Beitritt Polens an die Wand malt - und sich damit einen Dreck um die basisdemokratischen Wurzeln seiner eigenen Partei schert. Ganz Staatsmann und guter Europäer, weiß Fischer, dass es in einem solchen Referendum nur ein deutlich positives Votum geben dürfte. Und solange das nicht sicher ist, bleibt allein der Gedanke an solch eine Volksabstimmung für die Berliner Republik eine Horrorvision. Da ist es schon besser, »von oben« zu entscheiden und das gemeine Volk sich fügen zu lassen - in der Hoffnung auf spätere Einsicht in die Weisheit der von ihm gewählten Repräsentanten.
»Leadership« nennt man so etwas in Amerika, und das hat dort einen positiven Klang. Dem deutschen Wort »Führungsstärke« hingegen hängt immer noch ein Beigeschmack von Kadavergehorsam an. Vielleicht ist das auch gut so. Es könnte eine Chance für mehr unmittelbare Demokratie sein. Die aber funktioniert nur in einer offenen, aufgeklärten und toleranten Gesellschaft, mit hoher politischer Debattenkultur. Davon jedoch ist dieses Land immer noch meilenweit entfernt. Eine Politik, die sich unter diesen Bedingungen von Volksentscheiden abhängig machen wollte, wäre eher ein zivilisatorischer Rückschritt denn ein Gewinn. Unser Volk liest Bild, nicht Freitag (leider) und hätte die Todesstrafe für Kinderschänder wohl längst herbeigestimmt.
Das weiß auch Verheugen. Aber muss er sich deshalb den Vorwurf gefallen lassen, sein Vorschlag ziele darauf, die EU-Osterweiterung de facto zu beerdigen? Doch selbst wenn: Wie schlimm wäre das eigentlich? Warum muss sich die EU in ihrer jetzigen Verfassung eigentlich nach Osten erweitern? Ist das wirklich eine Entwicklungschance für die Beitrittskandidaten? Oder wäre die Mehrheit der Osteuropäer nicht besser beraten, zunächst einmal eigene kooperative Potenziale zu entwickeln? Und was ist mit uns, mit unseren Interessen? Von CDU bis PDS heißt es: Die EU-Osterweiterung sei eine riesige Chance. Wir dürfen also von mehreren, höchst unterschiedlichen Chancen ausgehen. Dass im Osten ein riesiger Markt winkt, leuchtet ein. Dass die Europäische Union mit ihrem Ritt nach Osten sozialer, ökologischer und demokratischer wird, scheint hingegen angesichts der realen Verhältnisse in den mittelosteuropäischen Staaten schwer vorstellbar. Im Gegenteil. Oder wäre diese Rücknahme des in Westeuropa erreichten Wohlstands- und Entwicklungsniveaus ein durchaus angemessener Preis für die gesamteuropäische Integration? All die Fragen sind da; sie sind berechtigt und finden bis heute keine öffentliche Debatte. Das ist der eigentliche Skandal.
Parallelen zur deutschen Einheit drängen sich auf. Hier: politische Eliten im ungleichen Kräfteverhältnis, die jedoch allesamt ins kalte Wasser springen, ohne zu wissen, was sie auf dem anderen Ufer erwartet. Und dort: Mehrheiten von Bürgern, die gern an die nautischen Fähigkeiten ihrer tollkühnen Repräsentanten glauben wollen - auch, weil ihr Alltag ihnen kaum eine Chance lässt, korrigierend einzugreifen. In einer solchen politischen Kultur verkommt die plebiszitäre Idee zur populistischen Verhinderungs-Diktatur: Wer etwas nicht will, ruft die Stimmungslage des skeptischen Volkes ab! Richtig wäre: Erst debattieren, dann abstimmen. Das Ergebnis mag dasselbe sein. Der Vorgang wäre es nicht.
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