Ich muss zugeben: Ich mag Listen. Ich führe stets mehrere To-do-Listen parallel, würde niemals ohne Einkaufsliste zu Ikea gehen, und ich halte die Information, dass Oprah Winfrey dieses Jahr zum vierten Mal die Forbes-Liste der einflussreichsten Prominenten der Welt anführt (gefolgt von Beyoncé Knowles und James Cameron), für nützlich.
Ich mag Listen, weil sie unübersichtliche Situationen übersichtlich machen. Sie sortieren, haben Mut zur Lücke und helfen, Ruhe zu bewahren, wenn man den Überblick über Angelina Jolies Filmgagen verloren hat.
Als Helfer ist die Liste undogmatisch und uneitel: Sie bietet sich für gemächliches Abarbeiten an, kann aber auch für Ausflüge und Exkurse verlassen werden. Man kann sie, währ
nn sie, während des Abarbeitens klüger geworden, neu zusammenstellen oder vor lauter Betriebsamkeit ganz vergessen und unerledigt in den Papierkorb werfen. Die Liste ist ein bescheidenes Instrument, bestens geeignet sowohl für den Beamten als auch für den Bohemien. Und immer gilt: Je unübersichtlicher die Ausgangssituation, desto hilfreicher die Liste.Eines der unübersichtlichsten Segmente des Deutschen Buchhandels wird von Independent-Verlagen gestaltet. Das liegt daran, dass die Programme unabhängiger Verlage noch stärker als die von Konzernverlagen von der Entdeckerfreude, der Leidenschaft und den Vorlieben ihrer Verleger bestimmt sind, wodurch oft Überraschendes und Spezielles zu Tage gefördert wird, zum Beispiel die 111 Anfänge (Romananfänge, Projektanfänge, erste Seiten von Fotoalben, aus Zeitungen …) in Ulrich Holbeins Bitte umblättern! (Elfenbein Verlag).Folglich sind Bestsellerlistenplätze, marktgängige Genres, unterwäschemodeltaugliche Autoren und dicke Marketingbudgets die Ausnahme. Wenn ein Leser in diesem Segment Entdeckungen machen und Vorlieben ausbilden will, braucht er Ausdauer und Ortskenntnis.Als Hilfe für die Eiligen und Unorientierten gibt es seit 2009 die Hotlist. Sie ist das Ergebnis einer Sortierung und Reduzierung in mehreren Schritten: Zunächst haben die Verlage den Titel ihres Programmes ausgewählt, den sie für hotlistwürdig halten. Aus diesen Einsendungen (110 in diesem Jahr) sind sieben Titel durch ein Internetvoting, weitere acht durch das Urteil einer Vorjury ausgewählt worden. Am 8. Oktober wird aus diesen 15 Titeln ein Sieger gekürt, der von einer weiteren Jury bestimmt wird, bestehend aus Literaturkritikern, Autoren und Buchhändlern. Der Gewinner des Hotlist-Preises ist also eine Art Triathlet: Er musste sich schwimmend gegen die anderen Bücher seines Verlags durchsetzen, radfahrend die Vorjury oder alternativ die Leser überzeugen und letztlich als Erster die Ziellinie passieren, die die Expertenjury gezogen hat.Heterogene Hotlist Meine Aufgabe und die meiner Jurykollegen ist es, diese Ziellinie zu definieren. Keine leichte Pflicht. Schließlich soll ein Buch den Hotlistpreis gewinnen, das von Lesern geschätzt wird, das die Arbeit der unabhängigen Verlage repräsentiert und eine Qualität und Intensität hat, die ihm über den Tag hinaus Bedeutung verleihen. Und das in einer Branche, die ein schrecklich schlechtes Gedächtnis hat.Langlebigkeit wünschen wir uns aber nicht nur für den Sieger, sondern auch für die Hotlist als Gesamtkonstrukt. Schließlich hat sie das Wunder vollbracht, die Jahresproduktion aller deutschsprachigen Independent-Verlage auf übersichtliches Listenformat zu bringen. Dafür gebührt ihr Lob und Dank. Was sich der Listenfreund jedoch stets, und auch im Falle der Hotlist, klarmachen muss: Wie die Forbes-Liste der einflussreichsten Prominenten ist die Hotlist eine fremderstellte Liste. Es ist, als würde man mit einer fremden Einkaufsliste einkaufen gehen. Das kann wunderbar funktionieren, sofern die eigenen Bedürfnisse den Kriterien entsprechen, nach denen die fremde Einkaufsliste erstellt worden ist. Aber man kann auch fehlgeleitet werden. Bei der Forbes-Liste der einflussreichsten Prominenten sind zum Beispiel Einkommen und Medienpräsenz entscheidend für die Rangfolge. Mal angenommen, ich suche einen einflussreichen Lover, dann ist die Forbes-Liste nur dann hilfreich für mich, wenn ich mit diesen Kriterien einverstanden bin. Halte ich statt Einkommen und Medienpräsenz aber Teestunden im Weißen Haus oder Beichten im Vatikan für die entscheidenden Kriterien für Einfluss, kann ich die Forbes-Liste vergessen.Hinter der Auswahl für die Hotlist 2010 stehen mit Internetvoting und Expertenjury zwei grundverschiedene Prinzipien. Es finden sich die Favoriten von Lesern genauso auf der Hotlist wie Titel, die aufgrund von ästhetischen und literaturkritischen Urteilen für preiswürdig befunden wurden. Das ist ein nachvollziehbarer Versuch, der Vielfalt des Marktes gerecht zu werden und sowohl dem Kritiker- als auch dem Publikumsurteil zu entsprechen. Die Hotlist als Gesamtkonstrukt aber wird durch dieses Vorgehen heterogen. Es ist ein bisschen so, als würden auf der Forbes-Liste sowohl die Prominenten mit den dicksten Werbeverträgen auftauchen als auch die mit dem größten Stapel Weihnachtskarten.Wegen dieser Heterogenität eignet sich die Hotlist nicht für ein zwanghaftes Abarbeiten. Umso mehr aber lädt sie ein zum Entdecken, zum Festlesen, zum ganz nach Belieben Weiterziehen, von Autoren zu Werken, von Werken zu Programmen. So bringt die Hotlist den Listenfreund um die Befriedigung des Abhakens, aber sie hilft ihm, sich nach und nach häuslich einzurichten in dem Segment der Independent-Verlage und ihre Vielfalt nicht als Chaos zu begreifen, sondern als Geschenk.