308 zu 289 lautete die am Ende doch noch knappe Entscheidung des Deutschen Bundestages am 28. Oktober 2010 über eine Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke. Was auf den ersten Blick aussieht wie ein Triumph der Atomlobby über fachliche Expertise, Mehrheitsmeinung der Bevölkerung und einmal gesetzte wirtschaftliche Rahmenbedingungen für eine wettbewerbliche Energiewirtschaft könnte sich am Ende als Anfang des beschleunigten Niedergangs des Oligopols von EON, RWE Co. herausstellen. Es wird wie immer in der Geschichte sein: Wer den geordneten Übergang aufhalten will, wird von den neuen Kräften umso heftiger fortgespült. Mich würde es nicht wundern, wenn die Atomkonzerne schon 2020 nicht mehr in der Form von heute existierten.
Weit über die Kreise erklärter Gegner der Atomenergie hinaus haben Inhalt und Stil, in dem Atomkonzerne gemeinsam mit schwarzgelber Koalition, einigen Wirtschaftsverbänden und ausgesuchten Medien die Laufzeitverlängerung durchputschten, Verärgerung und Nachdenken ausgelöst. Nachdenken darüber, ob diese Energiekonzerne, die jetzt zwei Generationen dominiert haben, nicht so übermächtig geworden sind, dass dies der Demokratie schadet. Nachdenken darüber, dass diese Konzerne offensichtlich nicht in der Lage sind, eine konstruktive und wichtige Rolle beim Übergang in eine dezentrale und erneuerbare Energieversorgung zu spielen. Den Atomkonzernen und ihrer Lobby sind viele mächtige neue Gegner entstanden. Eine neue Generation trägt den Widerstand gegen Atomenergie weiter und viele Medienvertreter beginnen, die Zusammenhänge zu begreifen. In der SPD kommt nach dem Schwenk von Atomenergie und Kohle hin zu den Erneuerbaren Energien jetzt die breite Erkenntnis dazu, dass dezentrale Strukturen besser für die Energiezukunft geeignet sind. Und selbst in den Reihen schwarzgelber Parlamentarier ist die Verärgerung über die Degradierung des Bundestags immens. Die klaren Worte von Bundestagspräsident Norbert Lammert sollten in den Konzernzentralen alle Alarmglocken läuten lassen.
Vertreter von EnBW, Vattenfall Co. fallen als verlässliche Gesprächspartner in Zukunft aus. Wer Geheimvereinbarungen abschließt und nachweislich Fakten verdreht, ist ein unglaubwürdiger Lobbyist. Wer bei Verträgen wie dem Atomausstieg nur die Vorteile kassiert und sich dann weigert, seine zugesagten Leistungen zu erbringen, ist niemand mehr, mit dem man einen Konsens suchen muss. Der „Atomausstieg 2.0“ wird für die Atomkonzerne unangenehmer werden als die Vereinbarungen der Jahre 2000/2001.
Um den Ausstieg wirklich zu erzwingen, muss neben einer reinen Begrenzung der Laufzeit der Betrieb der Reaktoren selbst schnell unrentabler werden, die unangemessen hohen Gewinne abgeschöpft werden. Die Sicherheitsanforderungen können – wie ohnehin berechtigt – sofort hochgefahren, Privilegien wie die weitgehende Freiheit von Versicherungen und steuerfreie Rücklagen beendet und Kosten aus Stromüberangeboten, die heute ungerechtfertigt die Erneuerbaren belasten, auf die Atomenergie als Verursacher überwälzt werden. Wie gesagt, diese Schritte eines Atomausstiegs 2.0 müssen die Atomkonzerne bei neuen politischen Mehrheiten nach 2013 auf jeden Fall befürchten. Sie sind nicht mehr abzuwenden, so groß ist die Verärgerung inzwischen. Selbst dann, wenn der Pyrrhussieg des 28. Oktober am Ende durch eine Verweigerung der Unterschrift des Bundespräsidenten oder einen nachträglichen Stopp vor dem Verfassungsgericht in Karlsruhe sogar zu einer direkten Niederlage würde. Denn der Beschluss des Bundestages ist bekanntlich in unserem Verfassungssystem nicht gleichbedeutend mit dem Inkrafttreten des Gesetzes. Dazwischen steht noch die Unterschrift des Bundespräsidenten. Und dort sitzt mit Christian Wulff ein Mann, der noch vor wenigen Monaten als Ministerpräsident seinen Sprecher hat ausrichten lassen, dass Niedersachsen von einer Zustimmungspflicht der Laufzeitverlängerung im Bundesrat ausgehen würde. Aber selbst wenn die Atomlobby diese schwierige Hürde nähme, sähe sie sich einer ganzen Reihe von Verfassungsklagen gegenüber, denen die Mehrzahl der Experten gute Chancen einräumen.
Auch eine Generationenfrage
Bei EON, RWE, EnBW und Vattenfall hat eine Managergeneration das Sagen, deren Einkommen sich nach den zeitnah erzielten Gewinnen orientiert. Im mittleren Management, bei Nachwuchskräften und in den Beschäftigtenvertretungen dagegen wächst die Erkenntnis, dass so für die Unternehmen und damit für die Arbeitsplätze keine Zukunft zu erreichen ist. Ganz klar: Diese Atomkonzerne wollen gar keine Brückentechnologie für die Erneuerbaren sein, sie wollen deren Ausbau mit allen Tricks und aller Macht verlangsamen. Kein Wunder, denn würden die Erneuerbaren Energien weiter so wachsen wie in 2009/2010, dann würde 2020 schon jede zweite Kilowattstunde aus Sonne, Wind, Biomasse und Wasserkraft stammen und das bei stetig sinkenden Kosten. Viele Stunden am Tag würden Erneuerbare Energien alleine die gesamte Stromversorgung übernehmen können. Die teuren, uralten und unflexiblen Atomkraftwerke müssten immer häufiger ganz abgeschaltet werden, was einen tagelangen Ausfall und Geldverlust bedeuten würde. Diese Zahlen kennen die mächtigen CEO der Atomwirtschaft genau, sie bedeuten das Ende ihres Geschäftsmodells.
Ulrich Kelber, Jahrgang 1968, ist stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion und zuständig für die Bereiche Umwelt, Naturschutz, Reaktorsicherheit, Landwirtschaft, Verbraucherschutz, Nachhaltigkeit. Sein Beitrag erschien zuerst beim Progressiven Zentrum, mit der Freitag das Projekt Linke Mitte gemeinsam organisiert
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