Ich hatte eher zufällig von der geplanten Nazi-Demo am 1. Mai in Berlin und den dazu aufgerufenen Blockadeaktionen gehört. Zwei Gründe brachten mich schließlich dazu, mich auf den Weg in den Prenzlauer Berg zu machen: Ich erinnerte mich an Dresden, wo im Februar Tausende schon einmal Rechtsradikale daran gehindert hatten, durch die Stadt zu ziehen. Zum anderen hatte ich am Morgen in einer Fernsehdokumentation über die letzten Tage des 2. Weltkrieges Bilder von der Befreiung des KZ Dachau im April 1945 gesehen. So etwas darf sich nie wiederholen, dachte ich, und machte mich auf den Weg in Richtung Bornholmer Straße, wo sich die Nazis treffen wollten, wie es hieß. Meine Kollegin Franziska W., Journalistin wie ich, begleitete mich.
Das Gebiet im Prenzlauer Berg war weiträumig abgesperrt, als wir gegen 11 Uhr dort ankamen. An mehreren Sperren hatten sich schon viele Menschen versammelt. Anwohner hatten Transparente gegen die Nazis an Fenster und Balkonen angebracht: „Nie wieder Faschismus“. Einer hatte Lautsprecher auf den Balkon gestellt und spielte das Lied von den „Moorsoldaten“. Wir hatten Glück, wurden als Journalisten überall durchgelassen und kamen so bis zur Bornholmer Straße. Unterwegs sahen wir auch einige Bundestagsabgeordnet, darunter Halina Wawzyniak von der Linken, die auf ihre Weise die Blockierenden unterstützten. Ab und zu bemerkten wir Rangeleien zwischen der gewohnt martialisch auftretenden Polizei und Demonstranten an den Absperrungen. Aber die großen Auseinandersetzungen blieben zum Glück aus.
Ein bisschen wie im Zoo
Lange Zeit war Ausharren angesagt, die angekündigten Neonazis waren nicht zu sehen. An ihrem Sammelplatz an der Ostseite der Bornholmer Brücke standen lange Zeit nur Vereinzelte von ihnen, umzäunt und umringt von einer immer größeren Zahl von Journalisten und einem enormen Polizeiaufgebot aus Nordrhein-Westfalen. Es war ein bisschen wie in einem Zoo, auch wenn dieser Vergleich den in Gehegen eingesperrten Tieren Unrecht tut. Manche der wartenden Journalisten glaubten schon nicht mehr, dass es zu einem Aufmarsch der Rechtsextremen kommt und zogen wieder ab.
Vereinzelt trafen weitere Neonazis ein, später bauten sie eine mobile Bühne auf und kamen in Gruppen aus dem S-Bahnhof Bornholmer Straße, meist schwarz gekleidet, viele aus Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, zum Teil mit Landesfahnen und mit schwarzen Fahnen, auf denen in weißer altdeutscher Schrift ihre Herkunftsregionen zu lesen waren. Auch einige Holländer waren dabei. Die meisten waren klar erkennbar, aber unter ihnen waren auch einige, die eher gutbürgerlich wirkten, vereinzelt auch welche, die unter anderen Umständen als Intellektuelle durch gehen könnten. Die in Gruppen ankommenden ostdeutschen Neonazis wirkten organisierter, nahmen auch sofort die sie umringenden und beobachtenden Journalisten ins Visier, fotografierten diese, machten Filmaufnahmen, stellten sich vor Kameras, verweigerten sich Anfragen.
Bob Marley gegen Nazi-Parolen
Irgendwann begann Christian Worch, einer der bekanntesten Neonazis, auf der mobilen Bühne in einer Rede gegen Ausländer zu hetzen, versetzt mit kruden antikapitalistischen Versatzstücken und ökonomischem Halbwissen. Noch unerträglicher wurde es, als ein rechter Möchtegern-Liedermacher auf die Bühne kam und das „deutsche Volk“ dazu aufrief, endlich aufzustehen, und die Straße des 17. Juni zur früheren Stalinallee erklärte. Leider fiel nur vereinzelt der Strom dabei aus, aber immerhin konnten die Rechtsextremen nicht ungestört zuhören: Anwohner spielten über Boxen auf den Balkonen laut Bob Marley und Klezmer-Musik oder machten mit Hilfe von Topfdeckeln ordentlich Krawall.
Etwas später und ein Stück weiter entdeckte ich Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse, gemeinsam mit Wolfgang Wieland von den Grünen und weiteren Politikern. Sie beobachteten die Situation und gaben Interviews. Es muss gegen 14 Uhr gewesen sein, als sich die laut Polizeiangaben rund 400 Nazis doch noch in Bewegung setzten. Daraufhin postierten sich Thierse und seine wenigen Begleiter vor den Polizeireihen, Plakate „Berlin gegen Nazis“ in den Händen. Sofort bildete sich eine filmendes, fotografierendes und interviewendes Medienaufgebot um Thierse – der so zum ersten Mal die Neonazi-Demo aufhielt. Es war eine ungeplante Aktion, ein kleiner Beitrag, den Aufmarsch mindestens zu bremsen.
Nachdem höhere Polizeibeamte Thierse auf die Gefahren und darauf aufmerksam machten, dass er selbst für seine persönliche Sicherheit verantwortlich sei, setzte sich der ganze Zug in Bewegung: erst die Nazis, dann die Polizei, und schließlich Thierse und seine Begleiter. Es sah etwas eigenartig aus, wie der SPD-Politiker und andere mit den Anti-Nazi-Plakaten vorne weg gingen, dabei unsicher wirkend, wie sie sich verhalten sollten. Zwei-, dreimal kamen die Neonazis zum Stehen, angeblich gestoppt von der Polizei, die erst Gegendemonstranten von Hausdächern holen wollte und brennende Müllcontainer löschen ließ.
Sinnvoll oder lächerlich?
Wir hatten uns inzwischen mit einigen anderen zu der kleinen Politiker-Gruppe gesellt, um sie zu unterstützen und ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind. Wie ich hatten weitere, auch Journalisten, ihre reine Beobachterrolle aufgegeben. Wir versuchten, auch Bewohner der anliegenden Häuser zum Mitmachen aufzurufen, aber die Hauseingänge waren zum Teil von Polizisten in Kampfausrüstung und Hunden ohne Maulkorb blockiert. Uns erreichte eine Nachricht, dass einer dieser Polizeihunde eine Frau gebissen hatte. Es gab immer wieder Diskussionen, ob eine spontane Sitzblockade sinnvoll wäre oder ob es lächerlich wirken könnte. Thierse ließ sich von den Argumenten der anderen, dass so etwas ein gutes Zeichen wäre, überzeugen und setzte sich gemeinsam mit uns, das Plakat „Berlin gegen Nazis“ hochhaltend, an der Ecke Bornholmer Straße/Schönfließer Straße auf den Asphalt. Gegenüber standen an einer Polizeiabsperrung Demonstranten und hatten dem Politiker zugerufen „Thierse, blockier’se“.
Und so fand ich mich ungeplant in einer Sitzblockade, neben mir der Bundestagsvizepräsident, Wieland, der Berliner Integrationsbeauftragte Günter Piening, der Pankower Bezirksbürgermeister Matthias Köhne und einige andere. Wir hielten damit ein weiteres Mal den Nazi-Aufmarsch auf und überraschten wohl auch die Polizei, die uns fünfmal aufforderte, die ungenehmigte Versammlung aufzulösen. Die Polizei wollte nicht weiter daran gehindert werden, das Recht der Nazis auf Durchführung ihrer angemeldeten Demo durchzusetzen. Sie drohten mit Räumung und Rechtsfolgen – und ich muss gestehen, ich war mir nicht sicher, wie das ausgeht, auch welche Folgen das für mich als Journalist hat. Aber auch nachdem nochmal ein höherer Polizeioffizier mit Thierse sprach, waren wir uns einig, dass wir sitzen bleiben, bis sie uns wegtragen. Der SPD-Politiker erzählte, dass der Innensenator von Berlin angekündigt habe, Thierse wegzutragen, wenn er sich dem Neonazi-Aufmarsch in den Weg stellt oder setzt.
Bilder des Tages
Für die Medienvertreter waren das die Bilder des Tages. Was wiederum denjenigen, die neben dem SPD-Mann und in der Nähe auf dem Asphalt saßen, einen gewissen öffentlichen Schutz bot. Einzeln führten die Polizisten die spontanen Blockierer ab, zuerst den Bundestagsvizepräsidenten, jedes Mal höflich fragend, ob sie beim Aufstehen helfen sollen – oder wir alleine gehen wollen. Manche ließen sich wegtragen, manchen standen nur mit Hilfe auf, manche gingen allein – bis ich plötzlich als Letzter auf der Straße saß und auch an der Reihe war.
Kurz darauf konnten die Neonazis weiterlaufen. Wir wurden unter dem Beifall von Gegendemonstranten in eine Seitenstraße geführt. Ich hatte mich nach einem Anruf bei einem befreundeten Anwalt schon auf die rechtlichen Folgen eingestellt. Doch die Polizei unterließ es tatsächlich, unsere Personalien aufzunehmen. Abgesehen davon, dass wir bei der Sitzblockade von ihnen gefilmt und fotografiert wurden.
Später beobachteten wir weiter das Geschehen. So unter anderem, wie ein Journalist iranischer oder indischer Herkunft von Rechten angepöbelt und attackiert wurde. Polizisten griffen ein und drängten die Provokateure in eine Seitenstraße ab. An der Kreuzung Schönhauser Alle/Wisbyer Straße erlebten wir, wie die Polizei mit Wasserwerfern und zahlreichen Einsatzkräften das Gebiet gegen unzählige Gegendemonstranten absperrte. Kollegen berichteten, was sie erlebt hatten, wie Polizisten in Hauseingänge stürmten und Leute vom Dach holten, weil diese angeblich mit Wurfgeschossen die Neonazi-Demo bedrohten. Wir hörten immer wieder, dass Journalisten beiseite gestoßen worden waren.
Kleiner, aber wichtiger Beitrag
Während wir uns fragten, wie das alles ausgeht, drehten gegen 16 Uhr mehrere Polizeigruppen, die eben noch die Absperrung gesichert hatten, plötzlich in Richtung Bornholmer Brücke ab, ebenso die drei Wasserwerfer und weitere Polizeifahrzeuge. Die Neonazis, die den Kreuzungsbereich noch lange nicht erreicht hatten, waren wieder zurück an ihrem Sammelplatz an der Brücke. Die Einsatzleitung hatte ihnen wohl klargemacht, dass der angemeldete Streckenverlauf nicht durchsetzbar ist. Ihr Sprecher hatte sich inzwischen via Lautsprecher aufs Klagen über die Polizei verlegt. Es muss gegen 17 Uhr gewesen sein, als der Spuk ein Ende hatte. Dank des Engagements vieler tausend Menschen mussten sie wie schon im Februar in Dresden wieder abziehen. Viele hatten mit Mut und zivilem Ungehorsam bewiesen, dass Widerstand gegen diejenigen, die demokratische Rechte nutzen wollen, um der Demokratie zu schaden, Wirkung hat und lohnenswert ist.
Die spontane Sitzblockade von Wolfgang Thierse und den anderen war ein kleiner, aber wichtiger Beitrag. Ein prominenter Politiker, zudem ein ostdeutscher mit der Erfahrung des Herbstes 1989 in der DDR, hatte deutlich Stellung bezogen – und dies ungeachtet all der erwarteten Vorwürfe. Ich kann nur den Kopf schütteln, wenn Thierse von Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) angegangen wird, und ihm der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, vorwirft, er hätte rechtswidrig seinen Status als Bundestagsabgeordneter ausgenutzt, um in den abgesperrten Bereich zu gelangen und „aus billigem Populismus gegen Recht und Gesetz verstoßen“. Freiberg, der vor dem 1. Mai unverantwortlich Panik und Terrorangst verbreitete, gar Tote herbeiredete, hätte ein besseres Zeichen gesetzt, wenn er sich als Gewerkschafter an den Gegendemonstrationen beteiligt hätte.
Eins zu Null für den Rechtsstaat
Thierse und wir, all die anderen, die sich den Neonazis in den Weg stellten, haben niemandem das Recht auf Leben und würdige Existenz abgesprochen, wir haben niemanden bedroht, weder direkt noch indirekt. Ich stimme Theresa Breuer vom Stern zu, die in ihrem Kommentar schreibt: „Die Neonazis durften sich versammeln, mit einer angemeldeten Demonstration ist das ihr gutes Recht. Die Gegendemonstranten verhinderten mit legalen Mitteln, dass dieser Haufen als Demonstrationszug durch Berlins Norden marschierte. Der diesjährige 1. Mai war also aus rechtsstaatlicher Perspektive ein grandioses Exempel für eine gelungene Umsetzung des Demonstrationsrechts. 1:0 für den Rechtsstaat.“
Mag Thierse anfänglich auch gezögert haben. Mit seinem Mut zu der spontanen Sitzblockade hat er ein Zeichen gesetzt, dem all die Politiker beim nächsten Mal folgen sollten. Viele hatten sich schließlich gar nicht gezeigt oder beließen es wie der Grüne Christian Ströbele beim radfahrenden Beobachten im abgesperrten Bereich.
Wenn die Neonazis – wie auf ihrem Rückzug angedroht – „wiederkommen“ und an anderen Orten versuchen, unter Ausnutzung demokratischer Rechte für alle ihre menschenverachtende und demokratiefeindliche Propaganda auf die Straße zu bringen, werden abermals Mut und ziviler Ungehorsam nötig sein. Im Nachhinein hoffe ich, dass die Polizei ähnlich nachsichtig mit denen umging, die an anderer Stelle den Weg der Neonazis blockierten und dabei nicht die selbe Medienöffentlichkeit wie Thierse hatten.
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