Hartz IV ist besser als Solms I

Sozialstaat Die Liberalen werben im Wahlkampf mit einem Bürgergeld. Klingt gut. Ist aber nur Teilkasko im Sozialstaat

„Weg mit Hartz IV!“, „Hartz IV abwählen!“ – die Rufe hört man wohl. Aber was kommt danach? Die FDP hat eine Antwort und die heißt: „Bürgergeld“. Es ist dies eine Antwort mit Gewicht. Denn Schwarz-Gelb ist als mögliche Regierungskonstellation nach dem 27. September noch keinesfalls passé. Mögen es auch derzeit nicht mehr 50 Prozent in jeder Umfrage sein – am Ende zählt die Sitzverteilung im Parlament, und also auch die Überhangmandate.

Bürgergeld, das klingt erst einmal gut. Man assoziiert: Jeder Bürger bekommt Geld und zwar bedingungslos. Genau so dachte auch Milton Friedman, der Vordenker der Liberalen: eine „negative“ Steuergutschrift, ausgezahlt an alle, egal ob erwerbstätig oder nicht.

Nicht so die Westerwelle-FDP. Deren Bürgergeld verlangt die Bedürftigkeitsprüfung, verpflichtet, jede Arbeit anzunehmen, sanktioniert. Und welch eine Schande für eine Bürgerrechtspartei: auch die Bedarfsgemeinschaft würde bei diesem Modell weiterleben! Das liberale Bürgergeld erweist sich als Mogelpackung. Hartz IV verschlimmbessert.

Alle Bedürftigen sollen künftig pauschal 662 Euro erhalten – im Durchschnitt. Wer in Großstädten lebt, etwas mehr, Menschen vom Lande etwas weniger. In dem jeweiligen Satz wäre alles enthalten, wirklich alles: Miete und Regelsatz, die Kostenübernahme für die Schuldnerberatung, Geld für psychosoziale Betreuung oder Suchtberatung; Betreuungskosten für Kinder, zu pflegende Angehörige, der Mehrbedarf für werdende Mütter, Alleinerziehende, Behinderte, Lehrmittel für Schüler – wirklich alles.

So wird Hartz IV deutlich unterboten: Abzüglich dem Regelsatz von 359 Euro verbleiben gerade mal 303 Euro für die Warmmiete. In Berlin werden bis zu 378 Euro Warmmiete für einen Einzelhaushalt übernommen, in Härtefällen sogar mehr. Für Neuanmietungen ist das heute schon zu wenig.

Bekanntlich kann man vom Regelsatz nicht leben; deshalb tut Zuverdienst not. Derzeitiger Ausweg: Man kann 30 Wochenstunden in Arbeitsgelegenheiten arbeiten; das erbringt monatlich 180 Euro zusätzlich. Oder man ergattert eine „reguläre“ Stelle im Öffentlichen Beschäftigungssektor. Sicherlich sind diese Jobs oft genug Beschäftigungstherapie, im schlimmsten Fall schiere Ausbeutung, im besten Fall Arbeit in Eigenregie – aber all inclusive reicht es für ein menschenwürdiges Leben, und man kommt unter die Leute. Würde die FDP das Bürgergeld durchsetzen, wäre mit all dem Schluss. Die mehr als sechs Milliarden Euro, die in diesem Jahr für so genannte Eingliederungsmaßnahmen zur Verfügung standen, würden gestrichen – ersatzlos. Das wäre auch verbunden mit verheerenden Folgen für abertausende Träger gemeinnütziger Arbeit. Ihre schwarz-gelbe Zukunft hieße Insolvenz.

Zum wahren Horrorszenario wird das Bürgergeld durch seine Verknüpfung mit dem, was die FDP „generationengerechte, nachhaltige und wettbewerbsorientierte Neuordnung der Sozialversicherung“ nennt. Übrig wird ein Torso bleiben aus „Basissicherung“, „Mindestumfang an Leistungen“ und „Teilabsicherung“ in der Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung. Teilkasko im „Sozialstaat“: Alles darüber hinaus müsste privat zusatzversichert werden – riskant-kapitalgedeckt, versteht sich.

Zwei Änderungen, die mit dem FDP-Bürgergeld einhergehen würden, sollen für das liberale Modell einnehmen: Wer hinzuverdient, wird zukünftig mehr behalten dürfen – was vor allem dem erklärten Ziel dienen würde, einen „funktionierenden Niedriglohnsektor“ zu schaffen. Und wer angespart hat, soll mehr behalten dürfen – das Schonvermögen würde steigen. Aber welcher 60-jährige „Langzeit-Hilfsbedürftige“ hat schon 45.000 Euro Altersvorsorge plus 15.000 Euro sonstiges Vermögen auf der hohen Kante? Niemand! Im „Club der Überflüssigen“ lohnt sich das Bürgergeld nur für jene, die Niedriglohnjobs ergattern und Vermögen haben.

Gleichwohl drückt die sozialkalte FDP nur aus, worüber sich die politische Klasse insgesamt einig ist: Hartz IV muss weg. Die Zukunft der „Grundabsicherung“ lässt sich nur auf einen (freilich sexistischen) Namen bringen: Tittytainment – eine Kombination von Entertainment und Mutterbrust. Gemeint ist: Mit einer Mischung aus betäubender Unterhaltung und ausreichender Ernährung wird die überflüssige Bevölkerung bei Laune gehalten. Kostengünstige Aufbewahrung statt teurer „Arbeitsgelegenheiten“ in Workfare-Projekten. In diese Richtung ist der Zug längst angefahren – mit oder ohne FDP.

Wer also Hartz IV zum Gruseln findet, muss Solms I noch viel mehr fürchten. So langsam wird es Zeit, sich an die Vorstellung zu gewöhnen, dass man Hartz IV punktuell verteidigen muss. Es kann nämlich noch weit schlechter kommen.

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