Lücken gefüllt mit Legenden

TV-Kritik Großer Spionagestoff? Die ARD-Reportage „Bespitzelt Springer!“ über die Stasi, die APO und den Bild-Konzern war vor allem eines: ein armseliges Filmchen

Wenn es hierzulande um „68“ und die Folgen geht, beherrschen fast nur Spekulation, Verdacht, Denunziation und - im harmlosesten Fall – Küchenpsychologie die Stammtische wie die Medien. Nach dem Zufallsfund der Akte Kurras im Mai dieses Jahres konnte man das einmal mehr beobachten. Der Westberliner Polizist, der Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 erschossen hat, war seit 1955 Stasi-Mitarbeiter und obendrein SPD- und SED-Mitglied. In den zwölf Jahren seiner Spitzeltätigkeit erhielt Kurras rund 20.000 Mark, also im Monat etwa 138 Mark, die ein Drittel seiner monatlichen Kosten für die Munition (300 bis 400 Mark) des Waffennarrs deckten.

Sehen so „Topagenten“ aus? War das „ungewöhnlich viel Geld“ (Stefan Aust)? Muss die Geschichte deshalb wieder einmal „umgeschrieben“ werden? Steuerte Mielke die ganze Protestbewegung oder finanzierte er zeitweise die Zeitschrift Konkret, den Berliner Extra-Dienst, und den Republikanischen Club sowie sehr punktuell Aktionen von APO und SDS?

Der 2. Juni 1967 war ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Protestbewegung. Aber diese begann nicht an jenem Tag, sondern schon Mitte der 60er Jahre und zwar weltweit. Die tödlichen Schüsse auf Benno Ohnesorg gaben der Protestbewegung ohne Zweifel einen Mobilisierungs- und Radikalisierungsschub. Aber die weltweite Protestbewegung bedurfte weder der Einflüsterungen der Stasi noch der DDR-Spionage.

Dies im Hinterkopf, durfte man gespannt sein auf die Reportage von Tilman Jens mit dem Titel Bespitzelt Springer!, die die ARD am Mittwochabend ausstrahlte. Jens’ Film beruht auf dem Buch der bekennenden Stasiologen Jochen Staadt, Tobias Voigt und Stefan Wolle – erschienen unter dem Titel Feind-Bild Springer.

Nach der Aktenlage gelang es der Stasi, eine Sekretärin in Springers Vorzimmer zu platzieren. Und die lieferte Wichtiges aus dessen Umfeld (vertrauliche Firmenakten, Privatbriefe, Entwürfe von Reden, Terminplanungen) und viele Informationen von eher geringem Wert (Adressen, Telefonnummern, Urlaubsorte).

Dass die Losung zur Parole „Enteignet Springer“ direkt von Ulbricht stammen soll, ist ein matter Witz, selbst wenn es die Wahrheit wäre, und liegt etwa auf dem schlichten Niveau von Jens’ spätem Hinweis, die Studenten hätten statt „Mörder Springer“ eher „Mörder Mielke“ skandieren sollen. Die täglich millionenfach verstärkte Hetze gegen Studenten und die gesamte außerparlamentarische Opposition in den Springer-Blättern wird aber mitnichten bedeutungslos, nur weil Kurras bei Mielke auf der Gehaltsliste stand und am 2. Juni durchdrehte.

Die Machart des zehn Millionen teuren, zehnstündigen Stasi-Propagandafilms über Springer, den Jens teilweise in seine Reportage einmontiert zeigt nur, dass das Niveau des Mielke-Ministeriums etwa dort lag, wo jenes der Stasiologen heute noch liegt: Argumentationslücken werden mit Legenden gefüllt. Beinahe jeder Politikstudent in Berlin argumentierte um 1968 politisch klarer und überzeugender als die ahnungslosen Drehbuchschreiber der Stasi. Der „richtig große Spionagestoff“, mit dem die ARD den Film ankündigte, war ein Rohrkrepierer.

Das Interview mit der Sekretärin, die Springer ausspionierte ist unergiebig, weil sie gar nichts sagt. Die Frau zahlte eine Geldbuße von 8.000 Euro und schweigt heute ebenso wie ihr ehemaliger Führungsoffizier und ihr Anwalt. Mit solchen Zeugen kann man Geschichte nicht „umschreiben“, ja nicht einmal einen Film drehen, der nicht einschläfert.

Die dokumentarischen Lücken in Jens’ armseligen Filmchen müssen die berufsmäßig tätigen Stasiologen im Bundesdienst füllen mit ihren Spekulationen über Agentendossiers als Stellvertretern für historisch belastbare Fakten: für den kampfererprobten Stasiologen Staadt etwa ist die sehr billig eingekaufte Frau in Springers Büro keine Sekretärin, sondern eine DDR-Spitzenkraft, was freilich nicht an Fakten überprüfbar ist, sondern nur am Umfang des Stasi-Dossiers: Zwanzig mal pro Jahr soll sie die Stasi mit Adressen und Terminen Springers informiert haben. Mit so „brisanten“ Mitteilungen sichert sich die beruflich interessierte Birthler-Historiografie der Stasiologen mediales Interesse und Arbeitsplätze bis ins Rentenalter.

Die relevanten Fragen beim Blick auf den 2. Juni 1967 lassen sich nicht mit den Stasi-Akten beantworten. Wie konnte ein Mann von Kurras’ Habitus Polizist werden? Wie kam es zu den zwei skandalösen Freisprüchen durch die Westberliner Justiz? Welche Rolle spielten Politik, Verfassungsschutz und Nachrichtendienste bei den farcenhaften Gerichtsprozessen? Warum sind Akten der Polizei und anderer Behörden nach wie vor nicht zugänglich, obwohl die 30-jährige Sperrfrist abgelaufen ist? Wo ist die Akte von Peter Urbach, jenem Mitarbeiter des Verfassungsschutzes, der den Studenten die Molotow-Cocktails buchstäblich aufdrängte bei der Springer-Blockade? Verglichen damit ist die Personalie Kurras eine Lappalie.

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