Schön praktisch

Linke im Wahljahr Mindestlohn, Grundeinkommen und Infrastruktur – das müssten im Wahljahr die Themen einer deutschen Linken sein, die überholte Parteigrenzen zu überwinden bereit ist

Was hat die Finanzmärkte und die produzierende Wirtschaft so tief erschüttert? Wie kann die Doppelkrise gedeutet werden? Gewerkschafter, Manager und Politiker haben jeder für sich klare Antworten auf diese Fragen. Aber keine davon ist bisher so stark, dass sie »herrscht« und die öffentliche Debatte prägt.

Die einen sagen: Wir haben es mit einer Zeitenwende zu tun. Erst ist der Realsozialismus untergegangen und nun der Marktradikalismus; der eine ist an der Frage der Demokratie und der andere an der sozialen Frage gescheitert. Die anderen sagen: Wir haben es im Kern mit einer klassischen Überproduktionskrise zu tun. Marktradikale zucken lakonisch mit den Schultern und sagen, das wird sich wieder einrenken. Geschulte Marxisten sehen Verwerfungen voraus. Dazwischen liegen viele Varianten. Der Kampf um die Deutungshoheit ist noch lange nicht entschieden.

Was macht diese doppelte Krise aus? Sie ist jedenfalls mehr als eine Wirtschaftskrise. Der Marktradikalismus der letzten Jahrzehnte hat nicht nur die ökonomischen Regeln auf den Kopf gestellt, er hat auch die Köpfe vieler Menschen erobert. Es wurde nicht gewirtschaftet, um Gewinn zu erzielen. Es wurde vorher eine Maximal-Rendite festgelegt und dann so gewirtschaftet, dass sie erreicht wird. Der republikanische Bürger verschwand nach und nach in der Figur des Unternehmers, des Kunden und des Konkurrenten. Politik wurde zum Vollstrecker von betriebswirtschaftlichen Sachzwängen, Demokratie zur Bürokratie. Der Marktradikalismus, der sich bisher nur blamiert und noch nicht abgedankt hat, war und ist also mehr als eine verwerfliche Art von Wirtschaften, er ist eine Lebens- und Denkform. Mit einer Unbeirrbarkeit durchgesetzt von wirtschaftlichen und politischen Eliten, die denen von fanatischen Glaubenskriegern gleichkommt. Insofern haben jene recht, die diese Krise als eine im Kern geistige Krise charakterisieren. Zu ihrer Bewältigung gehören mehr als nur Investitionen und neue Eigenkapitalquoten für Banken.

Folge anhaltender Ungerechtigkeiten

Die gegenwärtige Krise kann als Folge anhaltender Ungerechtigkeiten gedeutet werden. Mit der (Teil-)Privatisierung der Sozialsysteme, Renditewahn und Steuersenkungen einerseits und der Zunahme von Dumping- und Niedriglöhnen andererseits floss immer weniger Geld in öffentliche und immer mehr Geld in wenige private Hände, von dort an die Börsen, wo es rentierliche Anlagen suchte und zunehmend keine fand, weshalb neue riskante Finanzprodukte erfunden wurden. Wenn das die Ursache ist, dann ist die Wiederherstellung von materieller Gerechtigkeit das beste Krisenmanagement. Und wenn Gerechtigkeit die Antwort ist, dann steht das Ziel fest: Es geht um eine Politik der Rückverteilung; von oben nach unten, von den privaten in die öffentlichen Hände.

Besteuerte man Millionäre mit einem Prozent höher, dann würden pro Jahr knapp 20 Milliarden Euro mehr in die öffentlichen Kassen fließen. Wäre das die Sofortmaßnahme, um die Schäden der jetzigen Krise von den Richtigen und nicht von der Mehrheit bezahlen zu lassen, so böte das von Attac und der Gewerkschaft Verdi vor Jahren ausgearbeitete Konzept der solidarischen Einfachsteuer die Grundlage für ein künftiges gerechtes Steuersystem.

Die Doppelkrise weist jedoch noch eine Besonderheit auf. In ihrem schrillen Licht glänzen die aktuellen (Krisen-)Instrumente nicht, die bei den Linken so beliebt sind. Vielmehr wirken sie matt und stumpf. Daran ändert sich auch nichts, wenn heute überwältigende Mehrheiten, einschließlich der vereinigten Marktradikalen von Gerhard Schröder bis Josef Ackermann, für Konsumgutscheine, Investitionsprogramme, Verschrottungsprämien und vieles mehr plädieren. Zu groß ist die Gefahr, damit große Enttäuschungen zu produzieren. Was ist, wenn der Staat alle Vorschläge umsetzt – und alles weniger wirkt als erhofft? Dann sind die Marktradikalen wieder fein raus und die Anhänger von Staat und Keynes kauern im tiefen Glaubwürdigkeitsloch.

Offen über Grenzen reden

Deshalb sollte die Linke – ob Anhänger der Linkspartei, der Grünen, der SPD, der Gewerkschaften, von sozialen Verbänden, der christlichen Soziallehre – um ihrer Glaubwürdigkeit willen offen über die engen Grenzen dieser Strategie reden.

Grenze eins: Wird eine solche Politik nationalstaatlich organisiert, dann wirkt sie viel weniger als noch vor zwei Jahrzehnten. Das heißt, sie entwickelt nur ihre Kraft, wenn sie mindestens im Rahmen der Europäischen Union umgesetzt würde.

Grenze zwei: Es dürfen nur die Investitionen und Konsumausgaben gefördert werden, die zugleich die andere Krise, die Klimakatastrophe, nicht mehren, sondern mildern. Die Zeiten, in denen Investitionen in Beton und Asphalt per se als Lösung und nicht als Problem galten, sind vorbei. Es trägt nicht weit, wenn bedeutende Teile der Linken – beispielsweise die IG Metall und ihr verbundene Politiker – für eine Subventionierung der Automobilindustrie fechten, die längst zum Dinosaurier der Industriegesellschaft geworden ist. Öffentliche Finanzmittel sollten strikt nur in Investitionen und Konsum fließen, die unzweideutig den sozial-ökologischen Umbau der Wirtschaft befördern.

Grenze drei: Wir haben es in den hochproduktiven Industriestaaten im Kern mit einer klassischen Überproduktionskrise zu tun. Einerseits sind viele Menschen zu arm, als dass sie auch mit Hilfe des Staates nennenswert mehr konsumieren können. Andererseits besitzt die obere Hälfte der Gesellschaften alles. Anders gesagt: Wenn weltweit die Produktionskapazitäten der Autoherstellung halbiert werden, dann haben viele hunderttausende Menschen ihren Arbeitsplatz verloren; aber kein Bedürfnis bleibt deshalb unbefriedigt.

Angesichts dieser Fesseln und Grenzen rückt zwangsläufig eine vergessene Idee nach vorn: kürzere Arbeitszeiten, das Arbeitsvolumen umverteilen. Das wiederum führt zu der Frage, wie sich ein solches Instrument so mit der sozialen Absicherung koppeln lässt, dass es auch leb- und finanzierbar wird? Die Periode, in denen kürzere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich gefordert werden, ist vorbei. Außerdem erzwingt die neue Arbeitswelt andere Formen der sozialen Sicherung, das traditionelle Normalarbeitsverhältnis ist unter jüngeren Menschen bereits eine Rarität, prekäre Jobs nehmen zu. So landen wir bei dem Konzept des Grundeinkommens, das ebenso viele Vorteile bietet, wie es grundsätzliche Vorbehalte überall, aber vor allem auch in der Linken hervorruft.

Ist das Modell – zum Beispiel 750 Euro für jeden Erwachsenen, 250 Euro für jedes Kind – deshalb der falsche Weg? Nein. Fest verbunden mit einem Mindestlohn kann die Gefahr des Lohndumpings ausgeschlossen werden. Die Gesetze der Erwerbsgesellschaft bleiben in Kraft, wenn es mit der negativen Einkommenssteuer kombiniert wird. Wer arbeitet, verdient mehr als jene, die »nur« von Grundeinkommen leben. Je nach Höhe des Einkommens wird der Betrag der Grundsicherung nach und nach »weg-besteuert«. So wird das Konzept finanzierbar, erhält doch nur eine Minderheit den vollen Betrag.

Freiheit und Solidarität verbinden

Was bietet die Idee mehr als andere Systeme? Mit ihr lässt die Gesellschaft endlich die enge Vorstellung von Arbeit als reiner Erwerbsarbeit hinter sich. Erstmals würden alle Tätigkeiten honoriert und respektiert – auch Erziehung, Pflege, Familienarbeit. Da diese Arbeiten meist von Frauen geleistet werden, rückte die Gesellschaft mit dem Grundeinkommen auch der Gleichberechtigung einen Riesenschritt näher. Der Zwang, jeden dreckigen Job anzunehmen, wird beträchtlich gemildert. Es würde ohne entwürdigende Prüfungen ausbezahlt.

Das Grundeinkommen wäre eine Antwort auf die neuen Unsicherheiten des Arbeitsmarktes: Teilzeitarbeit, befristete Jobs, Projektarbeiten. Die Übergänge von einer Lebensphase in die andere ließen sich mit weniger Verletzungen bewerkstelligen. Das Austarieren von Familie und Beruf wäre für Paare und Alleinerzieher viel leichter möglich. Zahlreiche Varianten von verkürzten Erwerbsarbeitszeiten wären für viele Arbeitnehmer auf diese Weise überhaupt erst finanzierbar. Mit anderen Worten: Diese Art von Grundsicherung könnte kombinieren, was bisher gegeneinander ausgespielt wurde. Sie stärkt die Freiheit des Einzelnen und zugleich den Gedanken der gesellschaftlichen Solidarität. Wer allerdings dem Menschen nur Faulheit und Schlechtes unterstellt, wer denkt, der jeweils andere funktioniert nur unter Druck und Zwang, der muss strikt dagegen sein. Aus dieser Spannung rührt wohl das Charisma dieser Idee: Sie ist so schön praktisch, zugleich grundsätzlich und so entwaffnend naiv dem Menschen zugewandt.

Gerechtigkeit als moralische und wirtschaftlich wirksame Antwort auf die Krise. Mindestlohn plus sicheres Grundeinkommen plus soziale und ökologische öffentliche Infrastruktur – das könnte im Wahljahr 2009 der Stoff für eine Themen-Koalition der deutschen Linken sein. Einer Linken, der es wichtiger ist, die Idee einer neuen Politik für ein gerechtes Leben zu entwickeln, denn auf überholte Parteigrenzen zu achten.

Zuletzt veröffentlichte Wolfgang Storz mit Hans-Jürgen Arlt und Wolfgang Kessler: Alles Merkel? Schwarze Risiken. Bunte Revolutionen. Publik-Forum Verlag, 253 S., 15,80 Euro.

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