Deutschland wählt mitten in der Krise. Im Herbst sind die aktuellen Krisenwirkungen des Kasinokapitalismus am deutschen Arbeitsmarkt deutlicher angekommen. Mit der Finanzkrise, die bereits auf die Realwirtschaft und nun auf den Arbeitsmarkt übergreift, ist der Neoliberalismus in Misskredit geraten. Die allzu große Marktgläubigkeit der letzten Jahre ist einem kritischen Diskurs – selbst im Mainstream – gewichen, in dem allerdings die Henkels und Sinns des Landes schon besorgt rufen: Treibt es nicht zu weit, stürzt nicht den Systemgrundsatz wegen einzelner Fehlleistungen. Dies, wie auch die Sorge vor einem schnellen Zuviel an Staat manifestiert sich offenkundig im andauernden Umfragehoch der Liberalen.
So ist es ein Paradoxon, dass im Niedergang des Neolib
im Niedergang des Neoliberalismus in der größten europäischen Volkswirtschaft eine schwarz-gelbe Regierungsübernahme nicht zu den unwahrscheinlichsten Ergebnisoptionen des anstehenden Herbstes zählt. Es scheint, als würde der aktuelle gesellschaftliche Mehrheitskompromiss zwischen dem Ruf, die Marktwirtschaft nicht mit dem Neoliberalismus auszukippen, und den Forderungen nach massiver Verstaatlichung bis hin zur grundsätzlichen Systemfrage eben gerade durch die große Koalition vertreten. Da gibt es eine Abwrackprämie, ein paar Investitionen, eine Verstaatlichungsdrohung, aber nur ein stufenweises Vorgehen bei der HRE, ein Gesetz erstmal nur für diesen Fall, die Opel-Rettung, Karstadt-Fallenlassen, ein paar Steuervergünstigungen und ein Versprechen für später mehr Steuersenkungen an CSU und die FDP. Und schließlich zur massiven Erhöhung des schon hohen öffentlichen Schuldenbergs auch gleich eine Schuldenbremse. Die großen Parteien der linken und rechten Mitte haben für jeden, zumindest für einige Klientele und Interessengruppen, etwas dabei und ihren großen Koalitionskompromiss gefunden. Zur Krisenbewältigung springt die Regierung allerdings mit ihrem Sammelsurium von dennoch teuren Maßnahmen zu kurz. Die noch nicht lange beschlossene Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung rächt sich schon jetzt.Der Rest ist unverbindlicher Wahlkampf. Es ist nicht nur eine Oppositionsmasche von Gregor Gysi, nach der Glaubwürdigkeit zentraler Wahlkampfziele der SPD zu fragen. Wie sollten gerade die Themen Mindestlohn, Bürgerversicherung, gerechtere Besteuerung, keine Steuersenkungen zulasten der angespannten Haushalte, möglichst keine Bahnprivatisierung, mehr staatliche Eingriffe in der Krise oder mehr Regulation des Kasinos mit der FDP in einer Ampel umgesetzt werden? Und bei den meisten dieser Stichworte stellt sich die gleiche Frage auch bei einer weiteren Zusammenarbeit mit der CDU. Dass heißt, gerade jene Themen, die die SPD ohne ausdrücklichen Rückzug von der Agenda 2010 nun zur Rückgewinnung von klassischen Wählerklientelen im Wahlkampf setzt, sind nur mit den unwahrscheinlichen oder ausgeschlossenen Koalitionsoptionen Rot-Grün oder Rot-Rot-Grün zu realisieren. Mit diesem Dilemma kann sie ihr seit der zweiten Schröder-Regierungsphase bestehendes tiefes Glaubwürdigkeitsproblem nicht lösen.Das Europawahlergebnis kann zwar zunächst Zweifel aufkommen lassen, inwieweit sich Mehrheiten für die auch in dieser Wahlkampagne genannten SPD-Ziele wirklich begeistern. Angesichts der Wahlbeteiligung oder besser der massenhaften Nichtbeteiligung potenzieller SPD-Wählerschichten kann ebenso daraus geschlossen werden, dass die SPD-Politik und ihr derzeitiger Kanzlerkandidat nicht als glaubwürdige und verlässliche soziale Alternative wahrgenommen werden. Es bleibt abzuwarten, ob der angekündigte schärfere Kampf gegen die CDU Zulauf bringt. Aber angesichts der absehbar geringen Erfolgschance für ein einfaches Wiederholen von Rot-Grün bleibt neben der inhaltlichen Glaubwürdigkeitslücke immer wieder auch die machtstrategische.Gibt es eine linke Alternative? Offenbar nur für naive Träumer. Am ehesten sind noch die Grünen offen dafür, die allerdings auch inhaltlich und von der Konkurrenzsituation her am wenigsten Probleme mit einer Zusammenarbeit eines Mitte-Links-Lagers hätten. SPD und Linkspartei bleiben in ihren Gräben. Die SPD ist mehrheitlich nicht in der Lage und nicht willens, sich glaubwürdig von der Agenda-Politik zu lösen und hat vor allem nicht die Kraft, sich alle Machtoptionen offenzuhalten. Hessen hat gezeigt, dass die SPD auf die Frage, ob sie einen sozialökologischen Modernisierungswandel oder weiter großkoalitionäre Politik betreiben will, sich zumindest nicht für das erste entschieden hat.Das ist das Kernproblem, da sie – auch nach selbstbewusstem Bekunden der SPD-Linken – einen Führungsanspruch innerhalb des linken Lagers erhebt. Sie löst ihn nicht ein und wirbt nicht um gesellschaftliche Minimalakzeptanz, geschweige denn um eine Hegemonie, für ein Mitte-Links-Bündnis. Selbst die SPD-Linke flüchtet sich dabei in bloße Wahlkampfrituale, wechselte aber nur von der Beck-Unterstützung zur Wahlkampfgeschlossenheit durch Unterstützung für die „Stones“. Sie war nicht einmal in der Lage, frühzeitig ein auch im Freitag andiskutiertes neues Crossover (unter dem Namen liefen die Diskurse von Linken aus SPD, Grünen und PDS Mitte der neunziger Jahre) zu entwickeln. Die aktuelle Debatte mit Labour-Vertretern zur guten Gesellschaft ist ein spätes und sehr schwaches Zeichen für eine neue zunächst nur linkssozialdemokratische Selbstverständigung.Die Linkspartei auf der anderen Seite bleibt auch unsortiert, ohne programmatische Klarheit und in der Tat schwer berechenbar. Personelle Abgänge wie die der PDS-Mitbegründerin Kaufmann zeigen Erosionserscheinungen in der Integrationskraft der LINKEN. Sie will offenkundig mehrheitlich nicht regieren, um ihre Ziele wenigstens teilweise über diesen Weg umzusetzen. Stilistisch geht die aggressive Form der politischen Auseinandersetzung an Intellektuellen und Mittelschichten als Trägern einer möglichen gesellschaftlichen Unterstützungsbasis vorbei. Zum populären bis populistischen Siegeszug – allerdings ohne aktuelle Krisengewinne – gehören keine Mitte-Links-Signale, keine Brückenbauten für gemeinsame Politikprojekte, keine ernst gemeinten Kompromissangebote. Das zeigt auch der Wahlprogrammentwurf. Dazu kommen die schwierigen personellen Beziehungen ehemaliger SPDler zum potenziellen Partner. Die trotzige außen- und europapolitische Dogmatik ist dabei nur der Punkt auf diesem i.SPD und Linkspartei nutzen auf Bundesebene auch nicht die rot-rote Koalition in Berlin als positive Projektionsfläche für eine sinnvolle Kooperation. Im Gegenteil, es bleiben vor allem Skepsis und Ablehnung. Die jüngsten personellen Turbulenzen im Landesparlament konnten sicher auch in diesem Rahmen stattfinden, weil die Halbzeitbilanz nicht zu überzeugenden neuen Zielbestimmungen und Diskursen über spezifische Herausforderungen im bundespolitischen Zusammenhang genutzt wurde.So gibt es kein Mitte-Links-Projekt, keine gesellschaftliche Atmosphäre dafür, keine oder mindestens nicht ausreichend Träger in den drei Parteien. Dabei liegen wichtige soziale Themen und auch wirtschaftliche, ökologische wie staatsbezogene Herausforderungen aus der Krise geradezu auf der Straße. Aber es entwickelt niemand eine Debatte um Gemeinsamkeiten und produktive Positionsunterschiede, geschweige denn um ein neues sozialökologisches Projekt für den Anschluss an das neoliberale Zeitalter. Mangels dieser Alternative kann – im Grunde unbemerkt auch ohne konsistentes Programm – eine große Koalition wohl weiter wursteln. Der linke, mittelinke oder auch linkslibertäre Wähler wird sich auf 2013 vertagen müssen – zumindest was Wahlen und parlamentarische wie Regierungsmehrheiten angeht; leider zu viel verlorene Zeit und wieder nur eine neue vage Hoffnung.