Schick zur Beerdigung

Gedanken nach der Kündigung Irgendwann kommt dieses Scheißgefühl doch - die Traurigkeit

Knapp 13 Jahre hat Ullrich Schubert als Redakteur einer Anzeigenzeitung im sächsischen Flöha gearbeitet. Ende August erhält er seine Kündigung. Danach schreibt er auf, was passiert, mit ihm und in ihm.

Der Chef und seine Mädchen

Am Morgen, als ich nach langer Zeit mal wieder die Anzugjacke vom Bügel nahm, hatte ich mir eine tolle Antwort ausgedacht: "Zur Beerdigung geht man nun mal etwas feiner und zur eigenen ganz besonders schick." Die dauerte dann ganze zwei, drei Minuten und war überhaupt nicht feierlich: "Die Kosten müssen gesenkt werden, Festangestellte sind zu teuer, das ist natürlich nicht persönlich gemeint."

Bevor ich eintreten durfte, hatte der Chef der Praktikantin erklärt, wie ihr Bild ins Internet gelangt. Junge Mädchen waren sein Hobby. Sogar zu Dienstberatungen hatte er sie angeschleppt. Sie durften hören, was für die Ohren der einfachen Mitarbeiter nicht bestimmt war. Schon eigenartig, womit ein älterer, fetter Mann imponieren will.

Nach meiner Beerdigung wird die Geschäftsführung bis zum Ende der Kündigungsfrist kein Wort mehr an mich richten, geschweige denn, sich für fast 13 Jahre Arbeit in irgendeiner Form bedanken. Immerhin: Der Buschfunk hatte funktioniert und meldete das exakte Datum meiner Entlassung. Der Chef konnte mich nicht mehr überraschen.

Fünf Monate Galgenfrist

Die Beerdigung zieht sich, sie zieht sich über Monate. Ich muss gestehen, dass ich Zweifel habe, ob die (von wem auch immer) erkämpften Kündigungsfristen besser sind als ein schneller Schlussstrich. Denn eigentlich passiert nichts, fast nichts. Manchmal weniger als nichts. Dagegen bin ich mir sicher, dass die Nachricht von der Kündigung (die nicht nur mich betraf) im Nu rum war, aber keiner der Kollegen meldete sich. Kein Wort.

Die Menschen wissen nicht, wie sie sich in einem Fall verhalten sollen, der zum ersten Mal im Betrieb auftritt. Sie möchten nichts falsch machen und sind natürlich froh, dass es sie selbst nicht (noch nicht) getroffen hat. Verständlich, aber warum werden so viele Kollegen plötzlich zu feigen, egoistischen Typen? Jedenfalls mir gegenüber. Vielleicht liegt es daran, dass ich manchmal voller Bitterkeit bin.

Natürlich hatte ich sofort die Arbeitsagentur aufgesucht. Eine Mitarbeiterin sprach mit mir, als hätte ich einen Trauerfall in der Familie.

Wahrscheinlich bin ich der Trauerfall. Ansonsten passiert nichts. Manche Tage sind so normal wie früher. Man denkt gar nicht mehr an die Kündigung.

Wie geht´s denn so?

Das ist wirklich die idiotischste Frage, die man mir im Moment stellen kann. Antworte ich mit den üblichen Floskeln (die meist auch erwartet werden) oder sage ich die Wahrheit? Wenn ich erzähle, wie es mir wirklich geht, treffe ich auf Erstaunen und Unverständnis, manchmal auf Entrüstung. Einer erkundigt sich nach dem Betriebsrat, aber den kann der Chef in der Pfeife rauchen, und Solidarität ist ein Wort, das in den Spalten hiesiger Zeitungen nur noch selten vorkommt.

Bald fragt keiner mehr, und ich staune, wer alles inzwischen von der Sache erfahren hat. Selbst der Landtagsabgeordnete kommt des Wegs und fragt: Du klagst doch hoffentlich? Klar tue ich das, aber es hat nicht den Anschein, als würde mir das wirklich helfen.

Zunächst habe ich die letzten Wochen meiner eigenen Beerdigung zu überstehen. Ich werde noch reizbarer. "Man ist ein Idiot, wenn man für diesen Scheiß-Verein etwas macht", schreie ich im Büro. Und der Gedanke, an den nächsten Baum zu fahren, ist mit gar nicht so fremd.

Das große Aufräumen geht weiter

Irgendwann kommt dieses Scheißgefühl doch, die Traurigkeit. Ich glaube, ja, es ist vor allem Traurigkeit. Und manchmal ist es auch Wut oder sogar Hass. Ich denke darüber nach, wie einfach es ist, als Chef selbstherrlich über Menschen zu richten. Man muss sich allerdings weitgehend vom Menschsein entfernt haben. Und, ich will ehrlich sein, es gibt auch Chefs, die anders handeln und meinen, ihr größtes Kapital seien die Mitarbeiter.

An jenem Freitag verlasse ich gegen 16 Uhr das Büro. Das habe ich schon tausend Mal getan, aber es gibt einen kleinen Unterschied: Ich werde nicht mehr zurückkehren, nicht als Chef, der ich viele Jahre war, nicht als der Mitarbeiter, der auch keine ganz unbedeutende Rolle spielte. Nur als Gast schaue ich noch manchmal rein und bekomme meinen Kaffee genauso kostenlos wie die 13 Jahre zuvor. Ich werde um Rat gefragt bei den kleinen Entscheidungen, die noch getroffen werden können außerhalb der Diktatur des Geschäftsführers. Die Kolleginnen halten sogar meinen Stuhl frei, bis sie ihren ebenfalls räumen müssen - natürlich ist das nicht persönlich gemeint.

An drei Kolleginnen werde ich mich immer erinnern. Andrea und Renate waren ungewöhnlich loyal, weit über den Tag meiner Entlassung hinaus. Und auch deine Zeilen werde ich nicht vergessen, Manja.

Der Mann von der Tankstelle

In der Ecke, wo der Videofilm läuft, treffe ich ihn wieder. Eine halbe Stunde zuvor hatte der Mann für 6,07 Euro getankt. Der hat es nicht leicht, dachte ich, und an der Kasse fragte ihn ein Bekannter: "Na, du hast wohl Urlaub." Die Antwort: "So ungefähr."

Von wegen. Der Film wird im ersten Stock der Agentur für Arbeit gezeigt. Thema: Rechte und Pflichten während der Arbeitslosigkeit. Da steht er nun, der "Urlauber", und schaut gemeinsam mit mir auf die schönen Menschen im Fernseher. Später muss die Belehrung auf einem Formblatt quittiert werden.

Ich gehe zurück zum Kundenservice, wo der Sicherheitsmann noch immer mit Argusaugen wacht und nach einem Brötchen inzwischen eine Banane verzehrt. Die Frau hinterm Tresen ruft mich mit meinem Namen. "Ich bin doch das erste Mal hier, woher kennen Sie mich?" "Ich kenne Sie sowieso."

Was immer das heißen mag, ich kenne die Frau nicht, die mich in einen anderen Wartebereich schickt. Kaum sitze ich, werde ich von der Beraterin persönlich abgeholt. Fast schäme ich mich, bin ich etwas Besonderes? Ein paar Fragen, ein paar nette Sätze und der kaum verhüllte Hinweis, dass es mit Arbeitsstellen in meiner Branche schlecht aussieht. Wohl nicht nur in dieser Branche. Vorbei an den Leuten, die noch immer warten, und an den acht Computern, von denen vier defekt sind, gehe ich nach nicht einmal einer halben Stunde wieder aus dem Amt.

Es gibt so Nachwehen

Es passiert immer wieder, dass ich mir beim Frühstück sage: Jetzt musst du aber los! Ich muss aber nicht los, kein Termin, keine Arbeit.

Manchmal bekomme ich noch Aufträge, aber es werden immer weniger. Die Frau, die sie mir verschafft, muss bald alle Arbeit selbst erledigen, um über die Runden zu kommen. Die andere Frau, auf die ich hoffte, enttäuscht mich immer wieder auf eine Weise, die mir verdeutlicht, dass ich nicht viel von den Menschen verstehe. Aber in meiner Situation sollte man über Enttäuschungen nicht zu lange nachdenken.

Kein Tag vergeht ohne Gedanken an die Zukunft. "Selbstständig? In Ihrem Alter? Wissen Sie, auf was für Glatteis Sie sich begeben?" Meine Steuerberaterin springt fast auf den Tisch vor lauter Entrüstung. "Was soll ich sonst tun", frage ich, "auswandern, in meinem Alter?"

Dabei geht es mir zur Zeit nicht schlecht: Das Arbeitslosengeld ist nicht übel, ich muss nur für mich, für keine Familie sorgen. Und manchmal wird gedruckt, was ich zu Papier bringe. Mein "Schicksal" ist also wirklich kein Besonderes.

Licht sieht eigentlich nur, wer sich recht bald der Rentengrenze nähert. Ein merkwürdiges Leben, das möglichst schnell vergehen muss, damit man wenigstens die Rente genießen kann. Ein Lebensweg, der für mich nicht in Frage kommt. Er wäre auch viel zu lang, 15 Jahre.

Papier und Stift sind nicht unerschwinglich, und wer weiß, vielleicht kann ich bald im Sinne Strindbergs sagen: "Nimm dich in Acht, du Schuft, sonst steht dein Name kommende Woche in meiner Kolumne."


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