Bei den Verhandlungen über die Ausdehnung der EU wird von den Aspiranten aus Osteuropa mit wachsendem Unmut kritisiert, dass die Gemeinschaft bei heiklen Dossiers ihre Karten nicht auf den Tisch legt. Strittige Themen wie freier Personenverkehr, freier Kapitalverkehr oder Umwelt- und Beschäftigungspolitik werden einem Verhandlungsmarathon unterzogen - Kapitel wie Agrarpolitik oder Finanzkontrolle blieben bislang vollends ausgeklammert.
Tschechiens Brüsseler Missionschef Libor Secka ist viel zu sehr Diplomat, als dass er seinem Frust in aller Öffentlichkeit freien Lauf ließe. Die Message, die er nach der jüngsten Runde der EU-Beitrittsverhandlungen loswerden will, ist deshalb in freundliche Worte verpackt. Sorgsam meidet der smarte Mittvierziger selbst in engste
Mittvierziger selbst in engster Journalistenrunde jede Breitseite gegen seine Brüsseler Partner oder gar die Regierung in Paris, deren Minister derzeit das EU-Präsidiumshämmerchen schwingen. Doch durch die bedachtsam abgeschliffenen Sätze schimmert Enttäuschung. Alle weniger problematischen Kapitel des künftigen Beitrittsvertrages, so der Missionschef, sollten zügig abgeschlossen werden. Auf den Verhandlungstisch müssten endlich die heißen Eisen wie Agrarpolitik, Umwelt, Freizügigkeit der Arbeitnehmer oder Regionalförderung. Nein, auf ein Beitrittsdatum pochten dieTschechen nicht, doch zu einem konkreten Arbeitsszenario mit zeitlichen Vorgaben sollten sich die EU-Staaten schon durchringen. Andere Beitrittskandidaten machen ihrem Ärger, in Brüssel verschaukelt zu werden, deutlicher Luft. Ungarns Chefunterhändler Andre Juhasz forderte die EU-Kommission nach der jüngsten Verhandlungsrunde unverblümt auf, »nicht immer nur Nein zu sagen«. Sein polnischer Kollege Jan Kulakowski wittert nicht nur Personalmangel im Amt von Erweiterungskommissar Günter Verheugen, sondern mangelnden politischen Willen der EU-Mitgliedstaaten für ein zügiges Verhandlungstempo.Damit hat der Mann aus Warschau nicht ganz falsch getippt. Zwar ist rein formal betrachtet schon ein gewisser Teil der Beitrittsverträge unter Dach und Fach. Doch die harten Kernbereiche, in denen die Bewerber Schonfristen bei der Anwendung des EU-Rechts beantragt haben oder in denen es gar ums Geld geht, werden in Brüssel hinausgezögert. Beispiel Landwirtschaft. Alle Kandidatenländer wollen für ihre Bauern die gleichen direkten Einkommensbeihilfen in Form von Flächen- oder Tierprämien, wie sie die Landwirte in den heutigen EU-Staaten erhalten. Eine solche Gleichbehandlung würde Milliarden kosten und wird deshalb von den Altmitgliedern abgelehnt. In der mittelfristigen EU-Finanzplanung, die immerhin bis 2006 reicht, sind keine Gelder vorgesehen. Im Mandat der EU-Kommission für die Beitrittsverhandlungen ist die Frage bezeichnenderweise offen gelassen worden, so dass die Brüsseler Unterhändler darüber bestenfalls unverbindlich parlieren können.Allen Ernstes haben die EU-Staaten vor, weiter erkleckliche Subventionen an den Nährstand in Frankreich, den Niederlanden oder Deutschland fließen zu lassen, während die Taschen für die ärmeren Verwandten jenseits von Oder, Neiße oder Bayerischem Wald zugenäht bleiben. Damit werden Wettbewerbsverzerrungen riskiert, die im künftig gemeinsamen Binnenmarkt kaum auszuhalten wären. EU-Agrarkommissar Franz Fischer hat diese drohende Zweiteilung des Marktes als erster angesprochen und vorsichtig Kompromissvorstellungen entwickelt. Danach sollen Einkommensbeihilfen nach dem Beitritt von Polen, Ungarn oder Slowenien nicht sofort, sondern über einen Zeitraum von fünf bis sieben Jahren eingeführt werden. Zunächst würden die Gelder aus der EU-Gemeinschaftskasse vorrangig in die ländliche Entwicklung fließen.Das ergibt Sinn, weil große Teile der Land- und Nahrungsgüterwirtschaft in den Bewerberstaaten noch längst nicht wettbewerbsfähig sind und ein massiver Arbeitsplatzverlust alternative Beschäftigungsmöglichkeiten erfordern wird. Das Geld wäre nach Fischlers Berechnungen vorhanden, weil im EU-Haushalt schon ab 2002 allgemeine Mittel für die Osterweiterung eingeplant sind, die Beitritte aber später erfolgen werden. Würden die unverbrauchten Summen nicht jeweils zum Jahresende wieder an die heutigen EU-Staaten ausgeschüttet, sondern »angespart«, wären zwar Umschichtungen, aber keine Haushaltserhöhungen nötig. Doch den Finanzministern der Altmitglieder scheint die lockende »Verzögerungsdividende« am Herzen zu liegen.Der warme Regen könnte sich indes nach der Osterweiterung in eisigen Hagel verwandeln: Die Direktbeihilfen sind der Hebel Brüssels für die Steuerung der Produktionsmengen und damit zur Abwehr neuer Milchseen oder Fleischberge.Das Fischler-Modell ist schon einige Monate alt, von den Regierungen der EU-Staaten aber bisher mit vielsagendem Schweigen quittiert worden. Sie betätigen sich bislang eher als Bedenkenträger. Erst vor einigen Jahren machten ihre Agrarressortchefs klar, dass sie bei der Übernahme der EU-Hygiene- und Veterinärvorschriften keinen »Beitragsrabatt« zu gewähren denken. Übergangsregeln in diesem Bereich werden vor allem von Polen gefordert, weil die Umrüstung von mehr als 2.000 kleinen Schlachthöfen und Molkereien Milliarden-Investitionen erfordert. Die Regierung in Warschau will dafür Zeit gewinnen und deshalb mehrjährige Schonfristen, in denen noch eine innerpolnische Vermarktung von eigenen Fleisch- und Milchprodukten erlaubt wäre, die nicht EU-Standard entsprechen.Da dies im Binnenmarkt nicht zu kontrollieren wäre, ist das kategorische Nein der Agrarminister zwar folgerichtig, aber nicht ausreichend. Soll die Osterweiterung nicht verzögert werden, müssten neben harter Verhandlungsführung die bescheidenen Hilfen auf diesem Gebiet verstärkt werden. Da die EU-Agrarwirtschaft sich mit milliardenschweren Exportüberschüssen im Osthandel eine goldene Nase verdient, wäre zusätzliche Unterstützung nur recht und billig.Verzögert wird auch im Umweltbereich, in dem alle Bewerber Sonderwünsche geltend machen. Allein Tschechien hat sieben Anträge auf Übergangsfristen bis zu sieben Jahren gestellt. Sie betreffen unter anderem Recyclingquoten für Verpackungsabfälle, Normen für die Abwasserbehandlung oder das Risikomanagement für industrielle Altanlagen.Für den Bau der erforderlichen Kläranlagen seien in seinem Land Investitionen von 2,5 Milliarden Euro erforderlich, so Tschechiens Missionschef. Überfordert seien vor allem die kleineren Städte bis zu 10.000 Einwohnern. Das Anliegen, für sie Anpassungsfristen herauszuholen, ist nicht ganz unverständlich. Es wäre schlichtweg vermessen, von jeder böhmischen oder schlesischen Gemeinde die sofortige Einhaltung der EU-Normen zu verlangen, während die Abwässer von Brüssel noch heute ungeklärt in die Nordsee fließen.Die Durchsetzung sämtlicher EU-Umweltnormen in den Beitrittsländern kostet zwischen 120 und 200 Milliarden Euro, die nur über längere Zeiträume aufgebracht werden können. Folglich muss beim Aushandeln der Mitgliedsverträge über Prioritäten geredet werden -das heißt, knapp aber realistisch bemessene Übergangsfristen.