Pferdefleisch erster Sieger der Osterweiterung

AGRARMARKT EU/OSTEUROPA Die »doppelte Null-Lösung« bringt ab 2001 eine einschneidende Liberalisierung des beiderseitigen Handels

Die Aktionäre der deutschen Großmolkereien können sich die Hände reiben. Vom nächsten Jahr an dürfen wieder Lastzüge voller Fruchtzwerge und Joghurt-Becher zollfrei über die polnische Grenze rollen, den dortigen Markt überschwemmen und in Deutschland die Kassen klingeln lassen. Nach anderthalbjährigen zähen Verhandlungen hat die EU-Kommission die Regierung in Warschau gezwungen, Zollerhöhungen zum Schutz der eigenen Landwirtschaft wieder zurückzunehmen.

In Polen waren 1998 deutlich erhöhte Abgaben auf diverse Agrarimporte eingeführt worden, als in Polen eine landesweite Protestwelle aufbrandete und wütende Bauern mit brennenden Autoreifen und Strohballen Straßen und Grenzübergänge blockierten - der hoffnungsvolle EU-Anwärter drohte in bürgerkriegsähnliche Zustände abzudriften. Der Zorn richtete sich vor allem gegen die Überflutung des Marktes mit verbilligten, weil hoch subventionierten EU-Agrarprodukten, die heimische Erzeugerpreise in den Keller drückten und damit die Existenz vieler Höfe gefährdeten. Die Regierung von Jerzy Buzek (Wahlaktion Solidarnosc/AWS) sah sich gezwungen, die Notbremse zu ziehen, was schwere Konflikte mit Brüssel auslöste. Die jetzige Rücknahme der Agrarzölle musste den Polen daher durch Konzessionen versüßt werden, die alles in allem auf eine schrittweise gegenseitige Öffnung des Agrarhandels ab 1. Januar 2001 hinauslaufen. Ähnliche Abkommen waren vor der Sommerpause schon mit den übrigen neun EU-Kandidaten - von Bulgarien bis zu den baltischen Staaten - geschlossen worden. Ihr Kern besteht in einer »doppelten Null-Lösung« für Agrarerzeugnisse wie Schweinefleisch, Geflügel, Milchprodukte, Eier, Äpfel oder Tomaten. Die Einfuhrzölle werden - allerdings nur im Limit der bisherigen Liefermengen - auf Null reduziert, wobei diese Kontingente dann sukzessive hochgefahren werden dürfen. Im Gegenzug verzichtet die EU darauf, ihre Lieferpreise durch Exportsubventionen künstlich abzusenken.

Da Polen auch die Einfuhrzölle für Raps und Zucker zurücknahm, wurden dem Land im Gegenzug ein 16.000-Tonnen-Kontingent für (in der Union hoch subventioniertes) Rindfleisch sowie Konzessionen bei Obst und Gemüse eingeräumt. Mit den anderen Osteuropäern gibt es bei verschiedenen Warenkategorien ähnliche Deals. Völlig liberalisiert wird der Handel vorerst nur bei Pferdefleisch, Zitrusfrüchten und Olivenöl sein - Produkte, die in den Beitrittsländern eher selten sind.

Formal gesehen werden die Handelshemmnisse in Richtung EU-Binnenmarkt für die Osteuropäer stärker abgebaut als in Gegenrichtung. Der wertmäßige Anteil ihrer zollfrei in die Union gelieferten Sortimente wird von 37 auf 77 Prozent steigen. In umgekehrter Richtung erhöhen sich die zollfrei zugelassenen EU-Lieferungen nur von 20 auf 37 Prozent der bisherigen Warenströme.

Diese Zahlen dokumentieren auch, dass schon die bisherige, relativ bescheidene Marktöffnung dem Papier nach zugunsten der Beitrittskandidaten lief. In der Praxis führte dies dennoch dazu, dass die deutlich wettbewerbsfähigere und stärker subventionierte Land- und Nahrungsgüterwirtschaft der EU die östliche Konkurrenz auf den eigenen Märkten aufgrund eines besseren Absatzes an die Wand drückte. Seit Anfang der neunziger Jahre haben fast alle MOE-Staaten stark anwachsende Defizite zu verkraften. Die Union exportierte 1999 Agrargüter im Wert von 2,73 Milliarden Euro in die Beitrittsländer. Selbst das klassische Agrarland Polen muss dadurch alljährlich Defizite in dreistelliger Millionenhöhe schlucken.

Es bleibt abzuwarten, ob die jüngsten Liberalisierungsschritte im Ost-West-Agrarhandel diesen Negativtrend umkehren oder wiederum vorrangig westeuropäischen Großagrariern und Nahrungsmittelkonzernen als Türöffner zu den lukrativen Ostmärkten dienen. In jedem Fall verschärft sich mit der Liberalisierung des Handels und einer späteren Integration in den europäischen Binnenmarkt der Zwang, die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft in Polen, Rumänien oder im Baltikum spürbar zu forcieren. Die Gefahr ist groß, dass dabei westeuropäische agro-industrielle Rezepte kopiert werden. Großraumwirtschaft, Schweinemastbetriebe oder überdimensionierte Legebatterien mögen zwar auf längere Sicht zum Ausgleich negativer Agrarhandelsbilanzen führen, nicht aber zur Lösung der enormen ökologischen und vor allem sozialen Probleme Mittelosteuropas.

In Polen ist heute mehr als ein Viertel aller Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig - etwa das Fünffache des EU-Durchschnitts. Eine radikale Modernisierung nach westeuropäischen Schnittmustern würde ein Bauernlegen ungekannten Ausmaßes zur Folge haben und zur Freisetzung von Millionen Arbeitskräften führen. In Ostdeutschland, dessen Landwirtschaft zu DDR-Zeiten ungleich produktiver war als die polnische, ist die Zahl der Beschäftigten in den Agrarbetrieben nach der Einheit binnen weniger Jahre von 800.000 auf 200.000 gesunken. Heute existiert noch gut ein Achtel der einstigen Arbeitsplätze.

Sollen Polen und andere Beitrittsländer nicht einer sozialen Apokalypse entgegengetrieben werden, was die politische Zielsetzung der Osterweiterung konterkarieren würde, bedarf es umfassender Entwicklungsprogramme für den ländlichen Raum. Eine extensive, arbeitsintensive und auf Qualitätsprodukte orientierte Agrarwirtschaft könnte ebenso wie die regionale Vermarktung viele Arbeitskräfte binden. Sie würde zudem durchaus Exportchancen bieten - allein auf dem deutschen Markt bleibt das Angebot von Erzeugnissen aus dem ökologischen Landbau deutlich hinter dem Bedarf zurück.

Brüssel lässt zwar mit seinen Vorbeitrittsbeihilfen den ländlichen Raumes keinesfalls unbeachtet. Doch sind die dafür bereitgestellten Gelder kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein. Bislang stehen 520 Millionen Euro jährlich zur Verfügung, wovon Polen 168 Millionen erhalten soll - die Agrarsubventionen in den 15 EU-Mitgliedsstaaten betragen in etwa das 75-fache.

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