Atlantisches Tief

NATO-Gipfel Die neue Strategie - bis zuletzt unter Verschluß, aber schon im Einsatz

Der leidvolle Krieg gegen Jugoslawien richtet sich aus Sicht der USA gegen den letzten kommunistischen Diktator in Europa. Folglich finden sich in dem in Washington konzipierten Text des Rambouillet-Abkommens für einen Friedensvertrag ungewöhnliche Festlegungen wie die, daß »die Ökonomie des Kosovo gemäß den Prinzipien der Freien Marktwirtschaft funktionieren wird« (Kapitel 4 »Wirtschaft«, Artikel I, 1). Das provoziert die Frage, welche - neben dem deklarierten Ziel des Luftkrieges, die serbischen Verbrechen gegen die albanische Zivilbevölkerung aufzuhalten - anderen, nicht genannten Gründe zu dem US-Engagement gegen Jugoslawien geführt haben?

In diesen Tagen wird mit den Feiern zum 50. Geburtstag des NATO-Bündnisses auch die neue Strategie der Allianz proklamiert. Diese bleibt bis zuletzt Verschlußsache. Selbst gewieften Journalisten ist es bislang nicht gelungen, an den Text heranzukommen. Das hat augenscheinlich mit der politischen Brisanz des Dokuments zu tun. So geht es etwa um die Frage, ob die NATO künftig - wie im Fall Jugoslawien - ohne Mandat des Sicherheitsrates militärisch agieren wird. Am Ziel der amerikanischen Politik, von lästigen Bindungen an die ungeliebten UN loszukommen, dürfte es kaum Zweifel geben. Ein weiteres Politikziel gilt der, wie es in Washington heißt, »aktiven Counter-Proliferation«. Die USA möchten die europäischen Alliierten dazu bewegen, gegen Bestrebungen sogenannter »Schurkenstaaten«, die an Massenvernichtungswaffen gelangen wollen, im Extremfall gar Atomwaffen einzusetzen. Solche »aktive Counter-Proliferation« ist seit 1993 offizielle US-Militärstrategie. Da bislang bei jeder Neuerung der Strategie auf Seiten der Rest-NATO eine Inkubationszeit von sieben Jahren zu verzeichnen war (etwa beim Übergang vom Konzept der »massiven Vergeltung« zur »flexiblen Reponse«), ist damit zu rechnen, daß demnächst die gesamte NATO möglichen Aspiranten für Massenvernichtungsmittel mit Kernwaffen auf die Finger zu schlagen droht. In der Konsequenz heißt das, die Nuklearoption wird durch die Allianz eher ausgeweitet als eingeschränkt. Noch im Koalitionsvertrag hatte Rot-Grün den Einstieg in den Ausstieg auch bei der militärischen Anwendung der Kernenergie gefordert.

An der Kriegsführung der NATO gegen Jugoslawien läßt sich eine weitere Komponente der neuen Militärstrategie des Bündnisses ablesen. In künftige ethnische Konflikte will die NATO-Führungsmacht nämlich nicht nur ohne UN-Mandat, sondern vorrangig durch Luftschläge eingreifen. Der jetzige Krieg bildet den Prototyp für künftige Operationen der Allianz. »Luftmacht ist die für bewaffnete Interventionen Amerikas im Ausland bevorzugte Form«, schrieb die New York Times am 11. April, »das Pentagon muß versuchen, Luftkriegsmittel und Erkundungssysteme zu entwickeln, die unter solchen Umständen funktionieren, wie sie im Kosovo vorherrschen, einem Schlachtfeld ethnischer Konflikte, das in den kommenden Jahren mit Sicherheit zunehmend allgemeiner wird.« Fazit: Über den Atlantik kam nicht lediglich als einzelner Störfall die in Bonn mit wenig Begeisterung aufgenommene Einladung, sich an einem Krieg zu beteiligen. Die politischen Aufforderungen, welche dieser Krieg zur Folge hat, und die Bestrebungen Washingtons, diese in der Allianz umzusetzen, müssen den Verantwortlichen in der Bundesregierung nunmehr als anhaltendes atlantisches Sturmtief erscheinen.

Die intimen Kontakte zu amerikanischen Führungskreisen, die mit der Ära Kohl zwischen Washington und Bonn facettenreich florierten, sind mit dem Wechsel des Spitzenpersonals in Bonn weg. Besonders die Grünen haben fortwährend Schwierigkeiten, in Washington einen Fuß aufs Parkett zu bekommen. Schon ist zu hören, einer Regierung Kohl wäre ein Desaster wie mit dem Rambouillet-Abkommen nicht unterlaufen - sie hätte den Amerikanern intern hinreichend deutlich gemacht, daß es so nicht geht.

Insofern wird die Nacharbeit zum Ram bouillet-Friedensver such, dessen Scheitern ja den Luftkrieg nach sich zog, auch in Deutschland noch einige Anstrengungen erfordern. Noch hat keiner der Verantwortlichen öffentlich gesagt, er habe die 82 Seiten Vertragstext, die seinerzeit Botschafter Hill Serben und Albanern in Frankreich vorlegte, anläßlich der Kriegsentscheidung von vorn bis hinten gelesen. Der Text dieses Vertrages enthält diplomatiegeschichtlich in der Tat Neuerungen. Etwa einen Ombudsmann als Beobachter von Menschenrechtsverletzungen (Kapitel 6). Den herausragenden Teil bildet das nachfolgende Kapitel 7 mit dem nichtssagenden Titel »Implementation II«. Es handelt sich mitnichten, wie behauptet wird, um einen »normalen« Vertrag der Art, der die Bedingungen des Aufenthaltes ausländischer Streitkräfte regelt. Die folgenden 27 Seiten Text illustrieren im Gegenteil, wie sich die Strategen im Pentagon ein Abkommen über Truppenstationierung erträumen.

Doch auch in Richtung Milosevic ist Nacharbeit nötig. Die möglichen Reaktionen dieses Präsidenten und die schreckliche Konsequenz, mit der er seine unmenschliche Politik umsetzen würde, sind auch in Bonn völlig falsch eingeschätzt worden. Jugoslawien wird zwar durch die Wirkungen der anhaltenden Luftangriffe der NATO fortwährend geschwächt - das Vermögen zur Repression gegenüber den Albanern wird dadurch aber kaum beeinträchtigt. Diese einfache Bewertung ist augenscheinlich bei der Zustimmung Bonns zum Luftkrieg nicht ins Kalkül gezogen worden. Auch die Personifizierung »Milosevic« weist fehl, findet er doch mit seinen Intentionen Tausende williger Vollstrecker. Das Ausmaß an brutaler Willkür, die Unmenschlichkeit, mit der andere Staatsbürger im Kosovo massakriert und vertrieben werden, weist über eine einzelne Politikperson weit hinaus. Das haben wir alle nicht rechtzeitig begriffen.

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