Event-Hopping der Versprengten?

Von Seattle nach Quebec Die Protestkultur der Globalisierungsgegner bedient die Vision von einer radikalen Gegenmacht

Seit der gescheiterten WTO-Konferenz Ende 1999 in Seattle scheint nichts mehr, wie es war. Viele noch nicht zur Realpolitik übergewechselte, aber ob der Entwicklungen vergangener Jahre frustrierte Linke merken auf. Eine neue Spezies namens "Globalisierungsgegner" geistert durch die Medien. Natürlich ist ein Blick verkürzt, der Seattle als Auftakt und die Proteste gegen die Prager IWF-/Weltbank-Tagung im Herbst 2000, die Demonstrationen während des EU-Gipfels in Nizza und jüngst die Straßenrevolten gegen den amerikanischen Freihandelsgipfel von Quebec zum unbestreitbaren Kontinuum anti-neoliberaler Proteste hoch stilisiert oder gar eine "neue globale Bewegung" wittert.

Zum einen gibt es seit Jahren in metropolitanen Ländern Aktionen wie die Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, vor allem aber sollten die dynamischen Gewerkschafts- oder Landlosenbewegungen in Indien, Südkorea, Südafrika, Mexiko oder Brasilien nicht vergessen werden. Und außerdem: die Wucht neoliberaler Transformation erscheint ungebrochener denn je. Dennoch geriet Seattle seinerzeit zum ersten Kristallisationspunkt sozialer Strömungen nach Jahren politischer Lähmung. Waren die Proteste in den achtziger Jahren gegen Weltbank und IWF, getragen von einer metropolitanen Protest- und Solidaritätskultur, noch eher klassischer Imperialismuskritik verhaftet, so wird heute vorzugsweise gegen einen sich dynamisch globalisierenden Kapitalismus agiert, revoltiert und polemisiert.

Als Co-Eliten agierende NGO

Zwischen Seattle 1999 und Quebec 2001 wurde besonders eines deutlich: Wenige Jahre nach den mit viel Vorschusslorbeeren bedachten UN-Weltkonferenzen sind die NGO mit ihrer Fokussierung auf Expertise, gute Argumente oder den Appell an die Eigeninteressen der Herrschenden nicht viel weiter gekommen. Die Zivilgesellschaft ist Alibi - und kaum Aktion. Ihre Analysen werden von einem sozialen Klima absorbiert, in dem Regierungen, Unternehmen und Medien nach dem Motto verfahren: Wenn die "Zivilgesellschaft" mitredet, dann geht ja alles in Ordnung. Substantielle Veränderungen folgen daraus nicht. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Soziale Protestbewegungen können die oft als Co-Eliten agierenden NGO nicht ablösen, schon gar nicht in Ländern wie Deutschland. Linke nicht-parteiförmige Politik wird gerade hier weiterhin maßgeblich von NGO artikuliert.

Inhaltlich zeichnet sich das neue Protest-Spektrum durch eine anti-institutionalistische, größtenteils anti-etatistische Position aus. Neoliberal geprägte Gremien wie WTO, IWF und Weltbank werden als Hauptgegner betrachtet. Man organisiert sich in Netzwerken, um zivilen Ungehorsam zu koordinieren, so im 1997 gegründeten Netzwerk Peoples Global Action, das sich als Ausdruck einer radikalen Protestbewegung versteht (http://www.agp.org). Die mediale Wahrnehmung rekurriert daher häufig auf "versprengte Jugendliche", deren einzige Verbindung das Internet sei, und eine Globalisierungsgegnerschaft, die zuweilen mit erstaunlicher Theorieabstinenz daher komme. Derartige Behauptungen verabsolutieren den Umstand, dass heute viele Aktivisten reine Kapitalismuskritik als anachronistisch betrachten, aber zugleich den Versuch gutheißen, intellektuelle Kritik und soziale Bewegungen wieder stärker in Berührung zu bringen.

Ein Beispiel dafür ist Raisons d´agir (Gründe zu handeln), eine in Frankreich aktive Gruppe um den Soziologen Pierre Bourdieu, die sich Mitte der neunziger Jahre nach verschiedenen Streiks bildete. Sie will vor allem "kollektive Reflexion über das Selbstverständnis der Sozialwissenschaften und ihren politischen Handlungsbezug" stimulieren, eine mögliche Bewegung gegen den Neoliberalismus vernetzen und damit stärken. Eine "kritische Gegenmacht" soll wieder grundlegende Interessen zu artikulieren verstehen. 2001 will Raisons d´agir deshalb "Europäische Generalstände" einberufen, um eine gemeinsame Charta auszuarbeiten. Inhaltlich vertritt die Gruppe eher links-keynesianische Positionen, wenn es ihr zuvörderst um eine gerechtere Verteilung erwirtschafteten Reichtums geht. Der Staat wird als willfähriges Instrument neoliberaler Politik gesehen, soll jedoch bei einer Verschiebung sozialer Kräfteverhältnisse (wieder) auf eine am Allgemeinwohl orientierte Politik verpflichtet werden. Gerade in dieser Auffassung unterscheidet sich Raisons d´agir klar vom Anti-Etatismus der eingangs skizzierten internationalen Protestbewegung.

Routinierte Begleitprogramme

Nimmt man das Phänomen dieser neuen Protestkultur, die mit Seattle begann und vermutlich mit Quebec keinen Endpunkt gefunden hat, lassen sich für deren Segmente drei Gemeinsamkeiten ausmachen: Zum einen artikulieren sich die Initiativen jenseits realpolitischer Attitüden, die mit dem Machbarkeits-Argument jegliche Kritik vom Tisch fegen. Sie haben zweitens ein konfliktorientiertes Politikverständnis, indem sie klar einen oder mehrere Gegner identifizieren, gegen den Gegenmacht aufgebaut werden müsse. So vereinfachend Begriffe wie "gegen Neoliberalismus" - "gegen die Herrschaft der Finanzmärkte" auch sein mögen, so sehr konstituieren sie "Frontverläufe", die jede Bewegung braucht, um politisch handlungsfähig zu sein. Dies ist angesichts der jahrelangen Paralysierung linker Positionen nicht zu unterschätzen. Drittens greifen die verschiedenen Gruppen Absurditäten auf, die mit der neoliberalen Globalisierung immer offenkundiger werden. Das bezieht sich auf neoliberale Versprechen von Glück ("jeder ist seines Glückes...") und Gerechtigkeit (die angeblich über den Prozess des trickle down erreicht werden soll), die immer unverkennbarer Katastrophen aller Art produzieren. Die Proteste reflektieren gleichfalls ein diffuses Unbehagen angesichts der immer stärkeren "Standardisierung" des Lebens (Bildung/Wissen, Körper/Nahrung) und der Tatsache, dass die Kontrolle über die eigene Biografie zusehends vermeintlichen Markt- und Standorterfordernissen ausgeliefert wird. Hier könnte die Kritik an einer grassierenden Verelendung von Lebenskultur in erheblichem Maße politisierend wirken.

Allerdings dürfte der Aufbruch gegen die "neoliberale Konterrevolution" (Elmar Altvater) auf Dauer nur dann überzeugend und virulent sein, wenn die neue Protestkultur nicht zum routinierten Begleitprogramm internationaler Konferenzen - zum touristischen Event-hopping - degeneriert und sich nicht in ritualisierten Konfrontationen mit der Staatsgewalt erschöpft. Bei den Protesten anlässlich des EU-Gipfels Ende 2000 in Nizza war Derartiges gelegentlich zu beobachten.

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