Es bliebe das Segnen der Waffen

UN-Reform Die von Kofi Annan erwogene Revision der UN-Charta entzieht der Weltorganisation den Anspruch auf das Gewaltmonopol in den internationalen Beziehungen

Auch wenn für die Bundesregierung die Hauptfrage an das von Kofi Annan im März vorgelegte UN-Reformpaket war, wie sich der Generalsekretär zur Reform des Sicherheitsrats stellt, lohnt sich ein Blick auf das Kleingedruckte des Berichts. Wenig Aufmerksamkeit findet bisher eine mögliche Korrektur der UN-Charta, die darauf hinausliefe, Erwähnung und Definition des so genannten "Generalstabsausschusses" zu streichen. Annans lapidare Begründung lautet, die Charta solle "die Realitäten der heutigen Zeit widerspiegeln" (*).

Bisher heißt es in Artikel 47 der Charta (Kapitel VII), der Generalstabsausschuss rekrutiere sich aus den Generalstabschefs der fünf ständigen Sicherheitsratsmitglieder und könne weitere Länder zur Mitarbeit einladen, wenn "die wirksame Durchführung der Aufgaben des Ausschusses die Mitwirkung dieses Mitgliedes an seiner Arbeit erfordert". Der Ausschuss sei für nicht mehr und nicht weniger als "die strategische Leitung aller dem Sicherheitsrat zur Verfügung gestellten Streitkräfte verantwortlich". Die "Fragen bezüglich der Führung der Streitkräfte" wollte man später (nach Unterzeichnung der Charta im Juni 1945) regeln. Dazu kam es nie, wie auch der Generalstabsauschuss nie wirklich seine Arbeit aufnahm. Für UN-Missionen galten stets temporäre Kommandostrukturen - in Abhängigkeit vom Ziel der Operationen, dem Einsatzgebiet sowie den daran beteiligten nationalen Militärkontingenten.

Dennoch: Wenn irgendwo in der UN-Charta das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen statuarisch festgeschrieben wurde, dann an dieser Stelle. In der Institution des Generalstabsausschusses bündeln sich bis heute die Vorstellungen vieler Verteidiger der Vereinten Nationen, die der Weltorganisation militärische Macht geben wollen, um deren Gewaltmonopol durchzusetzen (als Vorbild gilt dabei die Polizei, die innerstaatlich das Gewaltmonopol absichert). Sollten sich jedoch Annans Reformideen durchsetzen, würde eher das Gegenteil eintreten.

Handschrift der NATO

Statt den Generalstabsausschuss als Keimzelle eines Gewaltmonopols endlich zu etablieren und mit Truppen und einem Planungsapparat auszustatten, soll besagter Artikel 47 abgeschafft werden, um den Weg für Anbieter militärischen Potenzials wie die NATO und andere zu ebnen, die nunmehr nach dem quasi "herrenlosen" Gewaltmonopol greifen können. Sollte dies geschehen, wären die Vereinten Nationen künftig darauf reduziert, die Waffen zu segnen, sprich: den Gebrauch militärischer Gewalt zu legitimieren.

Dafür stellt Annan die folgenden Regeln auf, nach denen sich das Prozedere zu richten hätte: Erstens: Ernst der Bedrohung, zweitens: Redlichkeit der Motive, drittens: Gewaltanwendung als letztes Mittel, viertens: Verhältnismäßigkeit der Mittel, fünftens: Angemessenheit der Folgen. Diese Kriterien sind in zweierlei Hinsicht nicht eindeutig und daher zweifelhaft: Zunächst einmal ist es für die Lagebeurteilung (Ernst der Bedrohung) äußerst relevant, wer die entsprechenden Informationen bereitstellt. Sind es UN eigene Quellen oder wie anno 2003 der Außenminister einer Supermacht, der einen Krieg durch gezielte Fehlinformationen legitimieren will? Schließlich wird man den Gebrauch militärischer Mittel um so häufiger als "letztes Mittel" ansehen, je weniger man sich zuvor um nicht-militärische Alternativen gekümmert hat. Und hier hat Annan nicht viel zu bieten.

Erteilt die UNO den Segen nicht, wird eben ohne sie marschiert. Die USA haben das zuletzt mit einigen Alliierten beim Angriffskrieg gegen den Irak praktiziert. Auch damalige Gegner des Einmarsches wie Frankreich und Deutschland respektieren das in der UN-Charta verankerte Verbot eines Angriffskrieges nur selektiv: 1999 waren sie an den NATO-Luftschlägen gegen Jugoslawien beteiligt. Seit mehreren Jahren baut die EU ein eigenes Interventionskorps auf - von Kofi Annan als "eine äußerst wertvolle Ergänzung unserer eigenen Anstrengungen" gelobt. Er stelle sich "ein ineinandergreifendes System von Friedenssicherungskapazitäten" vor, "das es den Vereinten Nationen ermöglichen wird, mit den zuständigen Regionalorganisationen im Rahmen verlässlicher und berechenbarer Partnerschaften zusammenzuarbeiten." Die Parallelität zum NATO-Konzept des "Geflechts der ineinandergreifenden Institutionen", in dem natürlich die NATO die führende Rolle spielt, ist nicht zu übersehen.

Wenn sich die UNO aller eigenen Planungs- und Kontrollkapazitäten beraubt hat, kann eine Zusammenarbeit nur so aussehen: Sie beauftragt Militärallianzen des Nordens - die NATO oder EU (nicht die eigentliche Regionalorganisation OSZE) - oder auch Ad-hoc-Bündnisse mit Militärmissionen, die diese nach eigenem Gutdünken ausführen. Denn wie die UNO "über wirksame Friedenssicherungskapazitäten verfügen" soll, wenn keine eigenen Gremien und Apparate mehr existieren, bleibt rätselhaft.

Blauhelm ab

Hinter Annans "Friedenssicherung" verbirgt sich ein den NATO-Konzepten angepasstes Grundverständnis. Früher wurde klar zwischen "Peace keeping" (zu deutsch: "Friedenserhaltung" oder eben "Friedenssicherung") nach Kapitel VI der UN-Charta (Blauhelm-Einsätze) und "Peace enforcement" ("Friedenserzwingung") nach Kapitel VII (Kampfeinsätze) unterschieden. Dem setzte die NATO mit ihrem "Friedensunterstützungskonzept" in den neunziger Jahren ein Ende. Darin wurden die verschiedenen Komponenten miteinander verrührt. Entscheidend war, dass stets ein Kampfeinsatzmandat nach Kapitel VII der UN-Charta erteilt wurde. Inzwischen ist das bei UN-Beschlüssen die Regel. Die Verlogenheit von Annans Bericht besteht nun darin, unter der Überschrift des in der Öffentlichkeit positiv besetzten "Peace keeping" auch Kampfeinsätze zu fassen. Die NATO war 1995 immerhin noch so fair, das gleiche Konzept sprachlich als "Friedensunterstützung" abzugrenzen.

Annans Ansatz hat den Vorteil, dass man mit einer harmlosen, in der Öffentlichkeit akzeptierten friedenserhaltenden Mission beginnen und diese dann ohne Personal- und Uniformwechsel eskalieren und in einen Kampfeinsatz transformieren kann. Damit sind klassische Blauhelm-Einsätze, die von der Zustimmung der jeweiligen Konfliktparteien und der Neutralität einer UN-Mission leben, obsolet. Stattdessen könnte die UN-Philosophie künftig in einer Art Abschreckungsdoktrin bestehen. In der von Annan eingesetzten hochrangig besetzten Expertenkommission hört sich das so an: "Die vom Generalsekretär empfohlene und vom Sicherheitsrat genehmigte Truppenstärke sollte ausreichen, um feindselige Gruppen abzuschrecken und abzuwehren." Mit anderen Worten, man kommt weiter mit einem freundlichen Wort und einer Kanone als nur mit einem freundlichen Wort. Was hier in Betracht gezogen wird, ist nichts anderes als die "NATOisierung" der UNO.

Bezogen auf die Rechtfertigung von Kriegen als "humanitäre Interventionen" macht der UN-Generalsekretär im Übrigen eine neue Argumentationsfigur salonfähig, indem der Diskurs vom Mittel (der "Intervention") auf die Begründung ("humanitär") verlagert wird. Praktischerweise wird nicht mehr über die Frage des Interventionsrechtes eines Staates oder von Staatengruppen debattiert (das ist von vorn herein gesetzt), sondern über "die ›Schutzverantwortung‹ jedes Staates, wenn Menschen vermeidbare Katastrophen erleiden und Opfer von Massenmord und Vergewaltigung und von ethnischer Säuberung durch Zwangsvertreibung und Terror werden". Nach Annan obliegt die Schutzverantwortung "in erster Linie jedem einzelnen Staat... Sind die einzelstaatlichen Behörden indessen nicht in der Lage oder nicht bereit, ihre Bürger zu schützen, dann geht die Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über ...". Am Ende könnten "erforderlichenfalls auch Zwangsmaßnahmen" vom Sicherheitsrat beschlossen werden. Ein möglicher Freibrief für Militärinterventionen, ohne dass die souveränen Rechte von Staaten noch in Betracht kommen - eine gefährliche Novellierung des Völkerrechts, die sich auch auf die UN-Charta auswirken dürfte. Nicht zuletzt deshalb, aber aus den anderen hier nur angedeuteten Gründen, wäre es alles andere als eine Katastrophe, sollte das von Kofi Annan favorisierte Reformpaket scheitern.

(*) Bericht des Generalsekretärs: In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle; 21. 3. 2005, A/59/2005.


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