Nun sollen also Bundeswehr-Soldaten an neue Einsatzorte in Afghanistan geschickt werden. Der geltende UN-Beschluss für den bisherigen Einsatz in Kabul beruft sich auf Kapitel VII der Charta: Was "friedenserhaltend" erscheint, war also schon in der Vergangenheit "friedenserzwingend" - mit anderen Worten: ein Kampfeinsatz. Nicht nur die US-Truppen sind in Afghanistan Partei, auch die inzwischen NATO-geführte ISAF. Sie überwacht keinen Waffenstillstand und ist auch nicht neutral - sie ist Besatzungstruppe. Von den militärischen Gegnern werden entsprechend Anschläge auf sie verübt. Sprechen wir es klar aus: Es geht um die Ausweitung eines Kampfeinsatzes, der nicht nur Taleban und afghanische Zivilisten, sondern auch Bundeswehr-Soldaten das Leben kosten kann.
Damit nicht genug: Minister Struck stellt sich neuerdings vor, auch deutsche Soldaten in den Irak zu schicken. Natürlich will die politische Kehrtwende wohl austariert sein. Sie beginnt als "Versuchsballon". Also dementiert der Regierungssprecher erst einmal eilig. Struck hat aber die Sache genau durchdacht und Voraussetzungen benannt. Ein NATO-Einsatz solle es sein, auf der Grundlage eines UN-Beschlusses. Beide kommen nur mit Unterstützung Deutschlands zustande. Die Nummer kennen wir schon: Man führt in einem internationalen Gremium einen Beschluss herbei und deutet den zuhause als "Sachzwang", der keine andere Wahl lässt.
Wie kommt es zu diesem riskanten Sinneswandel der Regierung - gerade sechs Monate nach Schröders Goslarer Rede, als er versprach, keine UN-Resolution abzunicken, die einen Militäreinsatz gegen den Irak legitimiert? Seinerzeit, im Februar, war die Bush-Regierung im Sicherheitsrat gegen den deutsch-französisch-russischen Schulterschluss heillos in die Defensive geraten. Zbigniew Brzezinski, einst Sicherheitsberater von Präsident Carter, stellte bekümmert fest, die USA seien "seit 1945 nie so isoliert gewesen". Immerhin stand aber noch die Mehrheit der US-Bürger hinter dem Kriegskurs, und so wurde trotzdem losgeschlagen. In wenigen Wochen zerschmetterte die US-Regierung das irakische Militär und viel politisches Geschirr. In den deutschen Medien schlug man sich auf die Seite der militärischen Sieger, beklagte das transatlantische Zerwürfnis und hatte auch gleich ein Heilmittel zu empfehlen: Die Schröder-Regierung solle sich einfach der US-Regierungshaltung anpassen, also ihre eigene Position revidieren. So wäre dann der Streit beendet. Aber die Schröder-Regierung ließ sich einige Monate Zeit, bevor Struck den aktuellen Versuchsballon aufsteigen ließ. Prompt lobt Bush das robuste deutsche Afghanistan-Engagement.
Der sich abzeichnende Positionswechsel ist nicht als einfache Kapitulation gegenüber politischem und medialem Druck zu verstehen. Im Hintergrund steht ein eigenständiges Motiv, das Ex-Verteidigungsminister Rühe bereits 1992 in den damaligen "Verteidigungspolitischen Richtlinien" so auf den Punkt gebracht hat: "Wenn ... der Frieden gefährdet ist, muss Deutschland auf Anforderung der Völkergemeinschaft auch militärische Solidarbeiträge leisten können. Qualität und Quantität der Beiträge bestimmen den politischen Handlungsspielraum Deutschlands und das Gewicht, mit dem die deutschen Interessen international zur Geltung gebracht werden können." Mitschießen heißt mitbestimmen.
Das internationale Kräfteverhältnis entsteht aber nicht nur dank militärischer Potenziale, die den USA einen Status als Supermacht verschaffen. Wirtschaftlich kann die Europäische Union zweifellos mithalten. In der transatlantischen politischen Klasse herrscht dennoch der Konsens vor, die militärische sei die wichtigste Ebene, um den eigenen Interessen zu dienen. Dabei ließen sich allein mit dem notorischen Leistungsbilanzdefizit der USA finanzielle Faktoren nutzen, um die Bush-Administration in die Schranken zu weisen - wenn man es denn wollte. Die Amerikaner wären in diesem Fall mit Konkurrenten auf gleicher Augenhöhe konfrontiert. Schließlich ist nüchtern betrachtet der größte Teil ihres Militärarsenals gegen die Hauptrivalen in Europa wertlos. Die meisten und teuersten Waffen können nur bei Strafe des eigenen Untergangs gegen die Konkurrenz gebraucht werden. Sie sind genau genommen nur gegen machtpolitisch unbedeutende Staaten wie Serbien, Afghanistan oder den Irak einsetzbar.
Eine demonstrative Aussöhnung mit Washington jedenfalls ist genau der falsche Weg. Wer dem Recht in den internationalen Beziehungen wieder zu mehr Geltung verhelfen will, sollte ergriffene Verbeugungen nach einer Floskel aus dem Munde Bushs vermeiden und stattdessen lieber die oppositionellen Kräfte in den USA, besonders unter den Demokraten, stärken, um einen "Regimewechsel" herbeizuführen. Gefordert sind keine deutschen Hilfssheriffdienste für US-Kriegs- und Besatzungsprojekte, sondern: eine konsequente deutsche Außenpolitik, die sich darauf konzentriert, die Bündniskonstellationen vom Frühjahr 2003 zu verbreitern und fortzuentwickeln.
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