Vom Wasser weht milder Sommerwind herüber. Er trägt den Duft von Rosen und Kiefernharz, auch den metallischen Klang von Hammerschlägen, die aus einer Fabrik am Ufer dringen. Ein Wald aus Strommasten durchbricht das Panorama der sanften Hügellandschaft, schließlich ist die Gegend am südlichen Ende des Żarnowiec-Sees nordwestlich von Danzig auch Bühne menschlichen Tuns. Insofern passt die Reaktor-Ruine hierher und weckt mit ihren verwitterten Betonquadern und verrosteten Stahlskeletten die besondere Neugier des Beobachters, obwohl altersschwacher Stacheldraht den Erkenntnisdrang aufhält.
Seelenruhig schlendert ein Wachmann der benachbarten Kabel-Fabrik herbei. „Sie dürfen nicht näher heran, das ist Sperrgebiet.“ Er weist auf e
eist auf ein Schild mit der Aufschrift Baugelände – Zutritt verboten! Dann lacht er und fügt kopfschüttelnd hinzu: „Gebaut wird hier schon seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr.“In den achtziger Jahren wollte die Volksrepublik Polen am Żarnowiec-See mit sowjetischer Hilfe ihr erstes Atomkraftwerk errichten. Das Vorhaben blieb unvollendet, erst löste der GAU von Tschernobyl Unruhe und Proteste aus, dann versetzte Polens vorübergehender wirtschaftlicher Kollaps nach dem Ende des Kalten Krieges den AKW-Plänen den Todesstoß. Seither verrottet die Ruine am See, während in direkter Nachbarschaft ein Industriegelände auf Raumgewinn bedacht ist. „Die Regierung richtet hier eine Sonderwirtschaftszone ein“, meint der Wachmann. „Vielleicht bekommen wir doch noch unseren Reaktor.“Während Deutschland nach der Nuklearkatastrophe von Fukushima aus der Kernkraft aussteigt, will Polen einsteigen. Das Wirtschaftswunderland braucht für seine Industrie zusehends mehr Energie. So hat die Regierung Tusk den Bau eines Kernkraftwerks bis 2020 beschlossen, um das Land aus der Abhängigkeit von russischem Gas und dem heimischen Klimakiller Kohle zu befreien – seit Ende Juni ist das Projekt ausgeschrieben.Ganz oben auf der Liste möglicher Standorte rangiert der Żarnowiec-See. Eine Vorprüfung ergab: Die Anbindung an das Stromnetz ist dort gegeben, die Erdbebengefahr gering, die Zustimmung der Bevölkerung groß (nach Umfragen liegt sie bei 75 Prozent). Was ist so attraktiv an einem Kernkraftwerk? Was hat sich geändert seit den Protesten der achtziger Jahre? „Damals war der Reaktor ein Symbol des Sozialismus – jetzt geht es um Arbeitsplätze“, sagt der Wachmann und rät zu einer Fahrt am Wasser bis in den Ort Żarnowiec am Nordrand des Sees. „Fragen Sie die Leute selbst.“Schwäne auf KursDie Straße erreicht schnell einen Wald, der die wenig einladenden Industrieanlagen des Südens verbirgt. Ein Idyll aus Ferienhäusern, einem malerischen Schilfgürtel und Sandstränden. Vor vereinzelten Bootsanlegern ziehen Schwäne ihre Bahnen. An einer Lichtung sitzt ein alter Mann im Rollstuhl und lässt sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Er beobachtet einige Maurer, die letzte Hand an einen modernen Backstein-Bau legen – die Kommune errichtet mit EU-Fördermitteln eine kleine Marina.Ja, sagt der Alte, vom Kernkraftwerk habe er natürlich gehört. „Ob es gebaut wird, das weiß nur Gott allein. Sie haben es doch schon einmal versucht, außer Unkraut und ein paar Betonplatten ist nichts geblieben.“ Er zeigt auf die Arbeiter und fügt hinzu: „Sehen Sie, dort entsteht wirklich etwas.“ Tourismus ist für die strukturschwache Region im äußersten Norden Polens unverzichtbar. Gut betuchte Städter aus Danzig und Warschau buchen hier Feriendomizile. Am gegenüberliegenden Ufer schimmern leuchtend rote Ziegeldächer durch die Baumkronen.Werden Touristen nicht die Flucht ergreifen, sollte sich ein Kernkraftwerk künftig Kühlwasser aus dem See holen? „Warten wir es ab“, sagt der alte Mann, „irgendwo muss die Energie eben herkommen.“ Sollte es ein Referendum zu dem Projekt geben – wie würde er abstimmen? Keine Antwort. Eine Volksbefragung ist nicht auszuschließen, die oppositionellen Sozialisten versprechen sich etwas davon.Landesweit können mittlerweile 53 Prozent der Atomkraft nichts mehr abgewinnen, vor Fukushima traf das nur auf 40 Prozent zu. Premier Donald Tusk beeindruckt diese Stimmung wenig, ein Referendum will er nur dann, „wenn es bei uns ernsthaften Widerstand gegen die Kernenergie gibt. Derzeit sehe ich dafür keinerlei Anzeichen, weder im Himmel noch auf Erden.“Irgendwelche KünstlerUnbehagen über den Vormarsch ins Nuklearzeitalter ist auch im Naturparadies am Nordufer des Żarnowiec-Sees kaum zu spüren. Eine verwunschene Allee führt in jenes Dorf, das dem Gewässer seinen Namen gab. Über einen kleinen Platz am Ortseingang hallen Glockengeläut und Kindergeschrei. Die ganze Pracht der 750-Seelen-Gemeinde lässt sich in Augenschein nehmen – die mittelalterliche Kirche und das angegliederte Kloster, in dem bis heute Nonnen des Benediktinerordens leben. Schule und Kaufmannsladen ducken sich in den Schatten der Gotteshäuser. Wo sollten Stimmen gegen den AKW-Bau laut werden, wenn nicht hier? Doch Alexandra Obszynska winkt schnell ab. „Wir reden mit den Kindern nicht über Radioaktivität“, sagt die junge Schulleiterin. „Unsere Ältesten sind erst zwölf Jahre alt. Das müssen schon die Eltern tun, finden Sie nicht? Bisher jedenfalls ist das Atomkraftwerk im Ort kein Thema.“ Von Ex-Bürgermeister Stanislaw Potrykus ist der Ausspruch überliefert: „Natürlich wird es Proteste geben. Aber das sind nicht unsere Leute. Das sind die Besitzer der Ferienhäuser am See – irgendwelche Künstler aus Warschau.“Direktorin Obszynska empfängt Besucher in einem winzigen Bürotrakt unterm Dach. Durch das gekippte Fenster dringt Baulärm. „Wir ziehen bald in ein neues Gebäude und bekommen eine eigene Turnhalle“, sagt die junge Frau und wirft hektisch ihr iPhone von einer Hand in die andere. Sie will raus zu den Handwerkern. Aufbruch heißt die Devise. Auf dem Flur stehen Dutzende Computer. Die Gemeinde hat für ihre Schule Zuschüsse der EU eingeworben. Żarnowiec modernisiert sich. Polen modernisiert sich. Wie gesagt, irgendwoher muss die Energie für ein Wirtschaftswunder ja kommen.