Keine Machtergreifung

Grenzen Ein Buch über "Diktaturen in Deutschland"

Der Historiker Hans Ulrich Wehler adelte vor einigen Jahren vergleichende Studien in der Historiographie. "Die komparative Analyse", so hielt er fest, gehört "zu den höchsten Künsten der Geschichtswissenschaft." Wer wollte da widersprechen? Doch natürlich sind historische Vergleiche auch nach diesem gewichtigen Urteil angesichts der Gefahr, Unvergleichbares zu vergleichen, immer noch umstritten. Vor allem der im Westen lange gern gesehene Vergleich von NS-Diktatur und DDR ist äußerst konfliktträchtig, denn hier vermischten sich in den 1950er- und frühen 1960er Jahren die politischen Feindbilder des Kalten Krieges mit dem "Modell totalitärer Herrschaft", das auf die Politikwissenschaftler Brzezinski und Friedrich zurückgeht. Mit einem groben Raster sechs "entscheidender Wesenszüge" sollte die Realität von Diktaturen analysiert werden. Nazi-Deutschland und die DDR wurden hiernach zu totalitären Diktaturen erklärt, weil es den Herrschenden gelungen sei, sich Staat, Wirtschaft und Gesellschaft völlig zu unterwerfen.

In den 1970er Jahren verlor der Totalitarismusansatz an Bedeutung, erst der Niedergang der UdSSR und die deutsche Einheit verhalfen ihm zur Renaissance. Seit einigen Jahren werden aber auch vergleichende Studien zur NS-Zeit und DDR durchgeführt, die sich bewusst von dem begrenzten Ansatz des Totalitarismuskonzepts absetzen: "Gemessen an den normativen Kriterien einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, welche die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten verbürgt," so heißt es in der Einleitung, "handelte es sich auch bei der DDR ... um eine Diktatur". Gleichzeitig ziehen die beiden Autoren aber eine deutliche, eine "unübersteigbare Grenze der Vergleichbarkeit", denn der SED-Staat hat "keinen Genozid begangen und auch keinen Rassen- und Vernichtungskrieg geführt".

Die Kritik am alten Totalitarismuskonzept zielt zum einen auf dessen deskriptiven Zuschnitt, mit dem bestimmte Strukturmerkmale von Diktaturen (etwa Ideologie, Geheimpolizei oder Waffenmonopol) untersucht werden sollen, zum anderen auf die, diesem implizite, Annahme, beide Diktaturen seien totalitär gewesen, weil es ihnen tatsächlich gelungen sei, ihren Herrschaftsanspruch umfassend durchzusetzen. Doch genau dies, das Ausmaß der "Durchherrschung" gilt es nach Ansicht von Heydemann und Schmiechen-Ackermann erst einmal zu untersuchen!

Dabei unterscheiden sie zwischen zwei methodologischen Zugriffen, zum einen dem sogenannten ganzheitlichen, integralen Makrovergleich, der auf einer stark abstrahierenden Ebene spezifischen Entwicklungen, Unterschieden und Gemeinsamkeiten beider Diktaturen nachgeht. Vor diesem Hintergrund wird dann ein "sektoraler oder partieller Mikrovergleich" vorgenommen, bei dem bestimmte Untersuchungsgegenstände aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Ziel analysiert werden, die jeweiligen Besonderheiten beider Diktaturen herauszuarbeiten.

Auf dieser Ebene des Mikrovergleichs spannen die 18 Beiträge im Buch einen weiten Bogen: von der Kleinkinderziehung über die Hochschulpolitik zu betriebsgeschichtlichen Studien von Unternehmen, die in beiden Systemen bestanden. Das Verhältnis der Herrschenden zu Medien und Öffentlichkeit wird ebenso untersucht, wie die Kirchenpolitik oder die Rolle der Bildungsschichten im NS-Staat und der DDR.

Von besonderem Interesse beim Vergleich der Diktaturen sind zwei Instanzen, zum einen die Partei als Träger der politisch-ideologischen Vorstellungen, zum anderen der Polizeiapparat gegen die politischen Kritiker und Gegner. Doch die Zentralen von Terror und Unterdrückung werden nicht behandelt. Über die Gestapo und das Ministerium für Staatssicherheit sucht man im Buch vergeblich nach vergleichenden Analysen. Der an den Biographien von MfS-Generälen orientierte Aufsatz von Ruth Bettina Girn und Jens Gieseke lässt keinen Einblick darüber zu, wie diese Repressionsapparate funktionierten. Nicht überzeugend zudem ihre Aussage, die NS-Sicherheitspolizei und der Sicherheitsdienst der SS, aber auch die Stasi, seien in "revolutionären Umbruchphasen" entstanden! Einmal abgesehen davon, dass nur die Nazis selbst ihren Terror als Revolution verstanden; nach 1945 war der sowjetisch besetzte Teil Deutschlands von einer "revolutionären Umbruchphase" weit entfernt, ohne die Besatzungsmacht wäre kaum etwas gegangen.

Den jeweiligen Einfluss von NSDAP und SED in der staatlichen Verwaltung im Land Sachsen untersuchen Mike Schmeitzner und Andreas Wagner. Sie arbeiten heraus, dass dort im Jahr 1933 sehr viel mehr Kontinuität herrschte, als nach 1945. Sowohl die Organisation der Behörden als auch ihre personelle Zusammensetzung waren 1933 sehr viel geringeren Eingriffen unterworfen als nach Kriegsende. Das ist so neu nun nicht, verweist aber auf eine wichtige Differenz beider Diktaturen. Den Zugriff von NSDAP und SED auf die sächsische Verwaltung bezeichnen Schmeitzner und Wagner als "Machtergreifung" und damit liegen sie deutlich daneben! Denn einmal entstammt dieser Ausdruck, wie die beiden bereits selbst feststellen, dem "Sprachgebrauch der NS-Zeit" und außerdem steht dieser Begriff bei allen Kontroversen in der Historiographie um "Machtergreifung" versus "Machtübergabe" für den Beginn der NS-Diktatur. Eben deshalb gibt es überhaupt keine wissenschaftliche Notwendigkeit, die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen von NS-Regime und SED-Diktatur auf diesen falschen gemeinsamen Nenner zu bringen!

Insgesamt überzeugen die Beiträge vor allem dort, wo die Unterschiede zwischen NS-Staat und DDR herausgearbeitet werden. Das differenzierte Forschungsdesign der Einleitung spiegelt sich dabei jedoch nicht in jedem einzelnen Aufsatz wider. Dies wird besonders dort deutlich, so sich begriffliche Unschärfen der zitierten Art finden. Der Erfolg weiterer vergleichender Studien wird aber entscheidend davon abhängen, ob und wie es gelingt, die Forschungsergebnisse in präzise Begriffe zu fassen.

Günther Heydemann/Heinrich Oberreuther (Hg.): Diktaturen in Deutschland - Vergleichsaspekte. Strukuren, Institutionen und Verhaltensweisen. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Band 398, Bonn 2003. 591 S., 2 EUR plus Versand. Bestellungen über die Bundeszentrale für politische Bildung, Adenaueralle 86, 53113 Bonn


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