Eisenhüttenstadt. 30 Kilometer südlich von Frankfurt an der Oder. Der Regionalexpress der Deutschen Bahn benötigt vom Berliner Ostbahnhof gut neunzig Minuten für die Fahrt. Ein kleiner Bahnhof, auf dem Vorplatz eine lange Schlange wartender Autos. Die Schranke am Bahnübergang erzwingt einen Halt. Im Bus der Linie 454 verspricht der Fahrer, die ortsunkundigen Fahrgäste, die zum "Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR" wollen, an der richtigen Haltestelle aussteigen zu lassen.
Die Fahrt geht nach rechts über die Bahngleise, vorbei an entkernten Plattenbauten, die auf ihren Abriss warten. Von 53.000 Einwohnern zum Ende der DDR sind heute noch 34.000 in Eisenhüttenstadt geblieben. Dieser Aderlass hat Folgen. Die Stadt wird auf ihren Kern "zurück
urückgebaut", erklärt wenig später Andreas Ludwig, der Leiter des Dokumentationszentrums. Die Kernstadt, das sind vier in den fünfziger Jahren entstandene Wohnkomplexe für das Eisenhüttenkombinat Ost. Das flache, zweigeschossige Gebäude des Dokumentationszentrums diente früher als Kinderkrippe und versteckt sich in einer parkähnlichen Anlage im Wohnkomplex II. Doch die Einheimischen können auswärtigen Besuchern den Weg zur Erich-Weinert-Allee 3 erklären. So auch der Busfahrer, der seine Fahrgäste vergessen hatte und dann eben auf der Rückfahrt an der richtigen Haltestelle die Türen vom Bus öffnete: "Hundert Meter zurück und dann zweimal links."Auf 400 Quadratmetern Ausstellungsfläche wird in dem Ende der neunziger Jahre zum Museum umgebauten Gebäude der "Alltag in der DDR" gezeigt. Daneben gibt es regelmäßige Sonderausstellungen, wie die über den "KONSUM. Die Konsumgenossenschaften in der DDR". Der KONSUM (und nur gelernten Westdeutschen muss erklärt werden, dass die Betonung dieses Wortes auf der ersten Silbe liegt), steht im Einzelhandel der DDR für den Kramladen an der Ecke, den es überall in der Republik gab. 1952 hatte die SED den Konsumgenossenschaften die Aufgabe übertragen, die Versorgung der Landbevölkerung zu gewährleisten. In fast jedem Dorf gab es einen kleinen KONSUMladen. Und auch in den Städten waren die Konsumgenossenschaften zu finden. Dort standen sie gewissermaßen in Konkurrenz zum staatlichen Einzelhandel, der Handelsorganisation (HO), und konnten über die Jahre immer gut ein Drittel des gesamten Einzelhandelsumsatzes der DDR für sich verbuchen.Aber der KONSUM war mehr als der kleine Kramladen an der Ecke. So gab es etwa dreizehn "konsument"-Warenhäuser in den größeren Städten zwischen Ostsee und Erzgebirge. Die Konsumgenossenschaften betrieben 1989, im letzten Jahr der DDR, 5.700 Gaststätten, etliche Backwaren- und Fleischverarbeitungskombinate, eine eigene KONSUM-Brauerei, eine Gewürzmühle, eine Bürstenfabrik (die es in Stützengrün auch heute noch gibt), eine Seifen- und eine Teigwarenfabrik oder auch eine Kaffeerösterei in Magdeburg; und zwischen 1961 und 1976 einen Versandhandel in Karl-Marx-Stadt, der die Landbevölkerung mit allem Notwendigen versorgen sollte. Wer Mitglied einer Konsumgenossenschaft war und fleißig Marken klebte, für den gab es zum Jahresende eine Rückvergütung. 1989 hatten die 198 Konsumgenossenschaften 4,6 Mio. Mitglieder und beschäftigten mehr als 250.000 Menschen. Die meisten davon waren Frauen, sie arbeiteten überwiegend als Verkäuferinnen, aber auch im Versandhandel und in der Produktion. Das war harte Arbeit. Die Fotografien in der Ausstellung zeigen das eindrucksvoll.Die Mehrzahl der präsentierten Fotos, Filme und Exponate stammt aus den fünfziger und sechziger Jahren. Während dieser Zeit lagen sowohl die Dokumentation der Arbeitsabläufe im KONSUM, als auch die Werbung noch in den Händen der Konsumgenossenschaften selbst; der VDK, der Verband Deutscher Konsumgenossenschaften beschäftigte beispielsweise mit Ursula Zernicke eigens eine Fotografin. Außerdem arbeiteten die einzelnen Genossenschaften regelmäßig mit ortsansässigen Fotografen zusammen. So kam ein umfangreiches und gut sortiertes Archiv zustande, das heute vom Konsumverband (der ostdeutschen Konsumgenossenschaften) in Berlin "gehütet" wird. Dort finden sich heute auch die Werbeplakate, die aus der Feder von Graphikern stammen, die ihr "Handwerk" noch in der Weimarer Republik erlernt hatten. Später übernahm die DEWAG, die Deutsche Werbe- und Anzeigengesellschaft die Produktion von Filmen und Plakaten. In der Ausstellung ist diese Veränderung als Zäsur erkennbar: Die Plakate mit der Werbung für den Konsum verlieren an Originalität und werden "irgendwie" gleichförmig. Witzige Figuren mit lebensfrohem Blick und roten Wangen weichen vermeintlich modernen, klaren Linien und immer öfter finden sich politische Losungen auf den Plakaten.Wer genug davon betrachtet hat, der sollte sich dem zuwenden, was die Ausstellungsmacher in die Vitrinen gelegt haben. Kundenbücher, Markenhefte, Teilzahlungsverträge, Mitgliedskarten, Statuten oder das Brigadebuch einer Textilverkaufstelle mit Verpflichtungen aus dem Jahr 1966, wie etwa der für Februar: Man werde zur kommenden Jugendweihe eine Modenschau veranstalten, um so die Auswahl der Kleidung zu erleichtern. Lesenswert auch eine Eingabe aus dem Jahr 1985, in der sich eine Kundin darüber beschwert, von zwei unfreundlichen Verkäuferinnen nicht die gewünschten Schweinekoteletts erhalten zu haben. Vor den Augen der Kundin verwandelten sie leichtsinniger Weise das begehrte Fleisch in Bückware für irgendjemand anderen. Das hatte, wie der Vorstand der Konsumgenossenschaft der erbosten Kundin schriftlich mitteilte, Lohnkürzungen für die Verkäuferinnen zur Folge, die sich außerdem noch persönlich entschuldigen mussten!Etliche Besucherinnen und Besucher der Ausstellung haben die Gelegenheit wahrgenommen und Kommentare im Gästebuch hinterlassen. Da ist viel von Erinnerung zu lesen. Am Schluss der Eintragungen steht oft ein herzliches Dankeschön für die "sehr gelungene Ausstellung," in der man sich "als DDR-Bürger" wiederfindet: "Es hat mir wieder sehr viel Vergnügen bereitet, wieder in Erinnerungen zu schwelgen. Vielen Dank für alles." Oder: "Schön, wieder in der DDR zu sein. Wir erkannten Vieles wieder und sind dankbar, dass diese gelungene Ausstellung auch für heutige Generationen zugänglich ist. Weiter so!" Und: Einfach toll, wieder an die Vergangenheit erinnert zu werden. Ich habe beim KONSUM Verkäuferin gelernt. Das war eine schöne Zeit. Danke für diese schöne Ausstellung."Und trotzdem: Auch wenn sich in manchem Kommentar eine fast wehmütige Erinnerung an vergangene Zeiten spüren lässt, die Ausstellung über den "KONSUM, die Konsumgenossenschaften in der DDR", ist keine, die ein (n)ostalgisches Bedürfnis bedient. Der Ausstellung gelingt die Gratwanderung zwischen Dokumentation und Verklärung, weil sie nicht idealisiert. Sie versucht zu zeigen wie und was war: Die harte Arbeit ebenso wie die regelmäßigen Schwierigkeiten bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln. Schade, dass es bisher noch keinen Ort in den alten Bundesländern gibt, an dem diese Ausstellung gezeigt werden kann. Das wäre deshalb wichtig, weil sie vielen Wessis einen neuen Blick auf die für sie immer noch weitgehend unbekannte DDR erlaubte.KONSUM. Die Konsumgenossenschaften in DDR. Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR. Eisenhüttenstadt
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