Abgesunken

Linksbündig Der moderne Rechtspopulismus kommt ohne Nationalgefühl aus

Diesseits aller verantwortungsvollen Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte, diesseits des Verfassungspatriotismus, so vermutet Martin Walser, gebe es etwas Vorgängiges - ein Gefühl der Liebe für Land und Nation. Zu dem müsse man sich doch bekennen dürfen. Zweitens dürfe diese Liebe nicht ständig verunglimpft werden durch den Zwang, sich im selben Atemzug an die Verfehlungen in der deutschen Geschichte erinnern zu müssen. Wenn es aber so etwas wie ein berechtigtes, unmittelbar positives Verhältnis zur Nation Deutschland gebe, dann könne Auschwitz, drittens, nicht in der Logik dieser Nation liegen, müsse es, viertens, andere Gründe geben. Auf eine bestimmte Art ist Walsers Argumentation schlüssig - dann nämlich, wenn die Liebe sich wie die einer liebenden Mutter verhält: Er ist mein Sohn, deshalb kann er letztlich nicht schlecht sein, und wenn doch, dann sind auch die anderen Schuld.
Seltsam an der Diskussion um Walsers Thesen ist, dass die Grundannahme, es bestehe nach wie vor ein starkes emotionales Gefühl für Deutschland, das im Untergrund auf seinen Ausbruch warte, kaum bezweifelt wird. Günther Grass hat sich in seinem jüngsten Buch der Vertriebenenfrage gewidmet; mancher hatte erwartet, dadurch komme ein Stein ins Rollen; doch die Emotionen blieben aus. Auch der Streit um die Benes?-Dekrete führte zu keiner gesellschaftsweiten Diskussion um das Schicksal der Ostgebiete.
Gerhard Schröder deklinierte auf der Veranstaltung mit Walser sein Nationalbewusstsein anhand des Sports durch. Vage konnte er sich erinnern, wie, als 1954 die Deutschen Fußballweltmeister wurden, das "Wir sind wieder wer"-Gefühl aufkam, das ihn aber eher aus der Ferne tangierte. Habe nicht jeder insgeheim die westdeutschen und die DDR- Medaillen aufsummiert? Dann war da noch dieser Sieg mit dem Tor von Sparwasser, "ich glaube es war 1982", sagte Schröder, worauf Moderator Christoph Dieckmann schnell konterte: "Das war am 20. Juni 1974" (pardon, wenn das Datum nicht stimmt, ich bin Westdeutscher). Die hübsche Anekdote zeigt das Maß der Identifikation, die ein Erfolg gerade gegen den deutschen Bruderstaat hervorzurufen wusste. Man kann heute wohl ohne Zynismus sagen, dass der skandierte Slogan "Deutschland einig Vaterland" der Ruf nach der Wirtschaftseinheit war, denn sonst müsste der nach wie vor bestehende ökonomisch-kulturelle Frust zwischen Ost und West in Deutschland längst vom großen nationalen Atem weggeblasen worden sein.
Danach kam die "Generation Golf", die, wie Florian Illies schreibt, nach gründlichster und wiederholter Aufarbeitung der Nazi-Zeit durch die 68-Geschichtslehrer "sehr gut" verstand, "was Martin Walser meinte, als er von der ›Dauerpräsentation unserer Schande‹ redete und von der Kultur des Wegschauens", nur fühlte sie sich dadurch nicht in ihrem Nationalgefühl, sondern in ihrer Konsum- und Karrierelust gestört. Das pathetische Nationalgefühl wäre demnach zunächst zu einem Identifikationsmuster, dann zu einem nur noch abstrakten Oberbegriff mehrerer politischer Teileinheiten geschrumpft, und schließlich auf den Nullpunkt gesunken.
Allerdings, wenn der Nationalstaat in Deutschland merklich abgenommen hat, so verschwand damit doch nicht das Ressentiment gegenüber Fremdem. Weil auffällt, dass die Fußballmannschaften inzwischen nur noch multikulturell überlebensfähig sind, weil die europäischen Nachbarn nicht mehr wirklich fremd sind, weil alle Deutschen mit Vorliebe ins Ausland reisen, hat das Feindbild "Fremder" an Klarheit eingebüßt. Deshalb kapriziert sich die Rechte heute auf die faulen Ausländer. Die rechtsradikalen Gruppierungen suchten sich außerdem andere, ältere Feindbilder, die besser zu provozieren vermochten. Darüber hinaus dienen den Rechten die alten Themen wie ein härteres Vorgehen bei Diebstahl, Steuerhinterziehung und Tötungsdelikten, manchmal auch Anleihen am Propagandagut deutschnationalen Schwadronierens, aber dass diese Rechte ein positives, bewegendes, gar charismatisches deutsches Nationalbewusstsein aufnähme und beförderte, ist nicht in Sicht. In der Zukunft dürfte sich nämlich immer deutlicher zeigen, dass als fremd und bedrohlich empfunden wird, wer im Zuge der Globalisierung zu den Benachteiligten gehört und daher ein Risiko für den wirtschaftlichen Standard darstellt. Wo sich die USA und Europa derzeit weltweit als Verteidiger ihrer Wohlstandsprivilegien gerieren, sind Rechtsströmungen, die solche Gefahren für ihre politischen Zwecke instrumentalisieren, nicht schwer auszurechnen. Weniger Le Pen und Haider als die moderneren Rechts-Populisten in Italien, Dänemark und Holland haben uns davon zuletzt einen Vorgeschmack beschert.

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