Das Beste, was passieren kann

Äthiopiens Wahl Die Opposition ist stark wie nie. Viele hoffen, dass ein Regierungswechsel ausbleibt

Seit über zehn Tagen müssen die Äthiopier auf ein erstes vorläufiges Ergebnis der Parlamentswahl vom 15. Mai warten, und die Stimmung ist zum Zerreißen gespannt. Wurde vor wenigen Wochen noch kolportiert, weniger als 85 Prozent der Stimmen seien für die regierende Revolutionspartei des Ministerpräsidenten Meles Zenawi eine Niederlage, muss der nun sogar um den Sieg fürchten.

Dabei schien es lange Zeit so, als würde die Abstimmung über das neue Bundesparlament von der Bevölkerung weitgehend unbeachtet bleiben. Noch drei Wochen vor der Wahl war in Addis Abeba so gut wie nichts davon zu bemerken: kein Poster, keine Kampagnen. Doch dann kam der Augenblick, in dem sich alles änderte. Regierung und Opposition hatten kurz vor dem Urnengang an aufeinander folgenden Tagen ihre Anhänger zu Abschlusskundgebungen mobilisiert - beide im Zentrum von Addis auf dem ansonsten zwölfspurig vom Stadtverkehr durchspülten Mesquelsquare. Dem Aufruf der regierenden Revolutionär-demokratischen Front des äthiopischen Volkes (EPRDF) waren eine Million Menschen gefolgt, um das Areal bis auf den letzten Platz zu füllen. Eine Sonntagszeitung sprach von der größten Veranstaltung seit dem Sturz von Staatschef Mengistu Haile Mariam vor 14 Jahren.

24 Stunden später strömten wiederum Hunderttausende auf den Platz, zeigten diesmal das "oppositionelle Victory-Zeichen" und bewiesen, dass der Mesquelsquare auch doppelt so viele Menschen aufzunehmen vermag. Als plötzlich die Lautsprecher verstummten und sintflutartige Regengüsse die Veranstaltung auflösten, hatten 2,5 Millionen ihr Recht auf Widerspruch wahrgenommen: in einem Land ohne Umfragen ein erster ernstzunehmender Hinweis, dass die Opposition ungeahnt stark sein könnte.

Gleich nach der Wahl stand dann bereits fest, dass Addis gefallen war. Dem zur Regierungspartei gehörenden Bürgermeister - vor einem Monat in Südafrika noch zum "Bürgermeister 2005" des afrikanischen Kontinents gewählt - verdankt Addis etliche Großprojekte, massenhaften Wohnungsbau, eine Umgehungsstraße und vieles mehr. Es half ihm nichts - er wurde abgewählt. In keinem Wahlkreis von Addis kam die Regierungspartei über 25 Prozent hinaus, während die oppositionelle Coalition for Unity and Democracy (CUD) überall die 75 Prozent-Marke überschritt. Erst Ende 2004 hatten sich nach langem Hickhack vier Oppositionsparteien zur dieser Allianz zusammengefunden, die - freilich ohne dass ihr Profil dies erkennen ließe - als sozialdemokratisch gilt. Wenige Monate vor der Wahl war damit eine Zersplitterung vereitelt worden, durch die sich die Opposition bisher mit 20 von 547 Parlamentssitzen marginalisiert sah.

Ein weiteres Bündnis, die United Ethiopian Democratic Forces (UEDF), schließt 15 zumeist im Ausland agierende Oppositionsgruppen zusammen: Diese beiden Formationen CUD und UEDF sind es, die derzeit mit etwa 210 von 524 Parlamentssitzen rechnen. Die Zahl stammt von parteieigenen Beobachtern, die den Auszählungen beiwohnen. Nicht einmal ein vorläufiges Ergebnis lag bei Redaktionsschluss vor - die Auszählung ist kompliziert, jede Stimme wird mit Argusaugen überprüft.

Das sah zunächst nach Staatsstreich aus

Äthiopien ist ein Land, das sich nicht auf den Rückhalt eines modernen Berufsbeamtentums stützen kann. Vielmehr war es die Befreiungsbewegung des Volks der Tigray im nördlichen Äthiopien, die 1991 das sozialistische Derg-Regime von Mengistu stürzte (das seinerseits 1974 den letzten äthiopischen Kaiser Haile Selassie vertrieben hatte). Aus ihr ging mit der EPRDF die Revolutionspartei hervor, die unter Parteichef und Premierminister Meles Zenawi seit 14 Jahren regiert. Sie hatte eine Verfassung eingesetzt, die dem Buchstaben nach "demokratischer ist als die der Vereinigten Staaten", so eine US-Demokratie-Spezialistin.

Premier Meles hatte vor dem 15. Mai neben der EU und der Afrikanischen Union auch die Organisation des ehemaligen US-Präsidenten Carter überzeugen können, sich an der Wahlbeobachtung zu beteiligen. Die Wahlbehörde, der mit Kemal Bedry der Präsident des Supreme Court vorsteht, hatte letzten Endes knapp 400 internationale Wahlbeobachter akkreditiert. Als nationalen Beobachtern dann die Zulassung verweigert wurde, führte eine Klage dazu, dass Präsident Bedry von der Polizei zum Gerichtssaal eskortiert und die Entscheidung kassiert wurde: eines der prozedural demokratischen Verfahren, die den internationalen Beobachtern ausnehmend gut gefielen.

Allerdings hatte es am Tag nach der Wahl auch besorgniserregende Anzeichen gegeben. Die Regierungspartei schien vom Stimmverhalten ihrer Bürger noch völlig schockiert, da ging Meles Zenawi vor die Presse und gab bekannt, ab sofort unterstünden sämtliche Sicherheitskräfte - die Armee, die Bundespolizei und die Milizen in den Regionen - einem "dem Ministerpräsidenten zuzurechnenden Kommando". Das sah zunächst nach einem Staatsstreich aus, doch hatte sich Meles unter dem Eindruck einer drohenden Niederlage wohl nur verbleibender Handlungsmöglichkeit versichern wollen. Zugleich erließ er ein einmonatiges Versammlungsverbot, das namentlich von Jimmy Carter ausdrücklich als friedensfördernd begrüßt wurde. Schließlich stellte sich heraus, dass die Medien übersehen hatten: Es handelte sich ohnehin nur um eine auf die Hauptstadt beschränkte Maßnahme.

Ein Beigeschmack der Launenhaftigkeit

Die Polarisierung auf Augenhöhe, zu der es zwischen der regierenden EPRDF und der CUD erstaunlicherweise kam, ist andererseits kaum von inhaltlichen Differenzen getragen. Auch den ersten Interviews nach der Wahl war kaum mehr zu entnehmen. Äußerungen aus der Opposition, man wolle den Weg des föderalistischen Staates, der den rund 20 unterschiedlichen Ethnien Äthiopiens Autonomierechte einräumt, wieder verlassen, sind schon aus verfassungsrechtlichen Gründen unglaubwürdig, ebenso wie die populistische Forderung, Eritrea die Hafenstadt Assab abzutrotzen und damit wieder Zugang zum Meer zu gewinnen. Der einzige offenbare Dissens bezieht sich auf den Landbesitz: Bisher kann Land nur gepachtet werden - die Opposition will es veräußern. Doch nicht solche Unterschiede haben den Wechsel in greifbare Nähe gerückt. Hartmut Hess, Leiter des äthiopischen Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung, spricht von einer "reinen Protestwahl" nach dem Motto, "14 Jahre sind genug, die Regierung hat uns nicht genug gebracht, jetzt sollen andere ran." Darin zeigt sich vielen, dass die äthiopische Demokratie wohl korrekte Wahlen garantieren kann, doch ein Staatswesen mit guter Regierungsführung, das einen reibungslosen Machtwechsel ermöglicht, noch fehlt.

So haftet der Wahl ein Beigeschmack der Launenhaftigkeit an. "Weitere fünf Jahre für die Regierung und eine starke Opposition", so die Kolumnistin einer Oppositionszeitung, "das wäre das Beste, was dem Land passieren könnte. Dann hätte die Opposition Zeit, regierungsfähig zu werden." Ob sie weiterregiert oder nicht: Der EPRDF wird in jedem Fall das überragende Verdienst bleiben, als Monopolpartei Äthiopien in Richtung einer pluralistischen Demokratie geöffnet zu haben.



Systembruch und Grenzkrieg -
Äthiopien nach 1989

März 1989 - Der Widerstand gegen die sozialistische Regierung von Staatschef Mengistu verstärkt sich. Zur Dachorganisation wird die Ethiopian People´s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) mit Generalsekretär Meles Zenawi.

Mai 1991 - Nachdem die Hafenstadt Assab an die Rebellen verloren ist, flieht Präsident Mengistu aus Addis Abeba nach Nairobi. Meles Zenawi wird neuer Präsident Äthiopiens.

April 1993 - 1,2 Millionen Eritreer entscheiden sich in einem Referendum mit 99,8 Prozent für die Unabhängigkeit Eritreas von Äthiopien.

Mai 1998 - Beginn eines Grenzkrieges zwischen Eritrea und Äthiopien. Meles Zenawi ist inzwischen Premierminister in Addis Abeba.

Dezember 2000 - Ein Friedensabkommen zwischen Eritrea und Äthiopien beendet die Kampfhandlungen. An der Grenze zwischen beiden Staaten wird ein 4.200 Mann starkes UN-Friedenskorps (MINUEE) stationiert.

April 2002 - Eine internationale Schiedskommission legt den endgültigen Grenzverlauf zwischen Eritrea und Äthiopien gemäß den 1900, 1902 und 1908 geschlossenen Abkommen zwischen Äthiopien und der Kolonialmacht Italien fest.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden