Ermittlungsakte

Medientagebuch Unweihnachtlich: Mit "Massaker in Afghanistan" zeigte die ARD eine Aufsehen erregende Dokumentation

Schimpfen aufs Fernsehprogramm ist üblich. Besonders wenn die stets geldknappen Öffentlich-Rechtlichen Sportprogramme und Weihnachtsschmonzetten auswalzen und die Privaten in der Werbeflaute Ladenhüter anbieten. Aber dann dies - und hier ist ein sofortiger Wechsel im Ton angemessen: Mit einer erstaunlichen Programmänderung hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen sich seiner besten Tugenden erinnert und am vergangenen Mittwoch überraschend auf einen Film reagiert (Das Massaker in Afghanistan - haben die Amerikaner zugesehen?), der mehr ist als ein Dokument: eine Ermittlungsakte von eminenter Wichtigkeit, deren Sachgehalt sich noch einmal zusammenzufassen lohnt.

Als sich 8.000 Taliban-Kämpfer nach der alliierten Offensive in Afghanistan unweit von Masar-i-Scharif ergeben hatten, wurden sie vorübergehend in der Festung Kalai Dschangi interniert. Von dort aus wurden sie durch die Wüste in das 300 Kilometer entfernte Gefängnis der Stadt Sheberghan überführt. Viele kamen unterwegs zu Tode - die zunächst auf 40 geschätzte Zahl wurde auf 200, dann auf 2.500 erhöht, und die sehr vorsichtige Schätzung der Verschwundenen bezieht sich nur auf den Gebietsausschnitt, in dem der irische Filmemacher Jamie Doran und sein kleines Team in Afghanistan recherchierten. Die Leichen sollen, dafür bietet der Film Bilder als Beweise an, in einem Massengrab bei Dasht Leili liegen.

Im Sommer hatte Doran Menschenrechtsorganisationen und die internationalen Presse alarmiert, als er vor Parlamentariern in Straßburg einen Rohschnitt präsentierte und bekannt wurde, dass die entwaffneten Kämpfer nicht, wie es offiziell hieß, auf offenen Lastwagen und bewacht von militärischen Eskorten durch die Wüste geleitet worden waren. Statt dessen waren sie in geschlossenen Containern mit nur wenigen Luftlöchern verladen worden.

Der am Ort zuständige Warlord ist der Nordallianz-General Dostum, der das Filmteam ebenso wie die amerikanische Armee ständig behinderte. Trotzdem gelang es Doran, für alle Behauptungen Zeugen zu finden, die bereit waren, vor der Kamera auszusagen: Während des Transports fingen die Gefangenen in den Containern an zu schreien. Ein afghanischer Soldat sagt aus, er habe dann den Befehl erhalten, Luftlöcher in die Behälter zu schießen. Aus den Containern floss Blut, in jedem wurden 140 bis 150 Gefangene transportiert, Hunderte der Eingepferchten kamen um. Später bemerkten Passanten an einer Tankstelle einen unerträglichen Geruch, der aus den Behältern strömte. Als die Container nach stundenlanger Fahrt bei einer Hitze von 40 Grad in Shebergan geöffnet wurden, türmten sich "Berge von blutüberströmten Leichen". "Ich werde diesen Geruch mein Leben lang nie mehr loswerden", sagt der Augenzeuge, der die Öffnung der Container beobachtete, "diese Mischung aus Blut, Urin, Erbrochenem, verrottetem Fleisch und Kot." Dann seien die toten Taliban zusammen mit noch lebenden - teils schwerverwundet, teils ohnmächtig - auf Lastwagen in die Wüste von Dasht Leili transportiert worden - unter Aufsicht von amerikanischen Soldaten. Ein Massengrab sei ausgehoben, die noch lebenden Soldaten seien erschossen worden. Auch hier seien - laut der Zeugen im Film - amerikanische Soldaten dabei gewesen.

Weitere Fragen, die der Film sich zu stellen oder auch nur zu insinuieren hütet: War ein solches Massaker nicht von Anfang an geplant, wo doch im Gefängnis von Shebergan gar kein Platz für die Gefangenen gewesen wäre? Und auch wenn Bilder die Beteiligung der Amerikaner nicht beweisen: Konnten die Afghanen ein solches Kriegsverbrechen begehen, ohne dass ihre amerikanischen Verbündeten davon gewusst hätten? Fragen, die vor einem Tribunal untersucht werden müssen, wie in diesem Film nicht nur Menschenrechtsanwalt Andrew McEnteer, wesentlich verantwortlich für die Einrichtung des Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte, fordert, sondern auch der ehemalige Stellvertretende Verteidigungsminister der USA, Richard Perle. Die filmischen Mittel waren der Sache angemessen schmucklos: nachgestellte Container auf Lastwagen, Bilder der afghanischen Wüste, Tafeln mit Aufschriften, Bilder von Kämpfen, das Pentagon. Wie es brillante journalistische Texte gibt, die allein durch nüchtern zusammengetragene Fakten bestechen, so überwältigte hier die gemeisterte Schwierigkeit, Hürden überwunden zu haben. Zweifellos wird das Verdienst, einen Sachverhalt so weit aufgerollt zu haben, dass er vor einem UN-Tribunal verhandlungsfähig wird, einmal allein diesem kleinen Film zukommen, gedreht von einer Handvoll irischer Journalisten, die durch die 270.000 Euro, die er gekostet hat, zeitweise vor dem Bankrott standen. Sie ersetzen eine ermittelnde Institution, ersetzen eine weltweit für eine Staatsanwaltschaft der Vereinten Nationen agierende Polizei, die einem internationalen Gerichtshof zuarbeiten würde.

Sämtliche Zeugen, die im Film auftreten, haben sich bereiterklärt, ihre Aussagen später vor einem UN-Tribunal zu wiederholen. Für die öffentliche, das heißt im Fernsehen ausgestrahlte Fassung sind die Gesichter unkenntlich gemacht, teils auch die Stimmen verstellt wiedergegeben, für ein Tribunal sind sie auf Film erhalten. Indes sind seit dem Ende der Dreharbeiten bereits zwei Zeugen ermordet worden. Bemühungen um ein UN-Zeugenschutzprogramm stießen auf guten Willen - und scheiterten bislang an der Schwäche der Vereinten Nationen und an einem fehlenden internationalen Gerichtshof. Schon von Beginn an wurde im Gebiet der Massengräber offenbar darauf hingearbeitet, dass die Spuren per Satellit nicht erkennbar sind. Zwischenzeitlich drohen weitere Spuren verwischt zu werden. Ist es verwunderlich, dass - trotz oder wegen der Brisanz - bisher nur elf Länder den Film angekauft haben? Die Angst, die umgeht, macht offenbar selbst vor einer Fernsehausstrahlung nicht halt. Müssten aber nicht gerade all diejenigen, die in Afghanistan engagiert sind, an einer lückenlosen Aufklärung höchst interessiert sein? Vielleicht ist es auch von Vorteil, dass sich die amerikanische Gesellschaft selbst, durch ein Tribunal aus ihren Reihen, mit der Untersuchung des Sachverhalts befassen muss; auch dort sind die Menschenrechtler alarmiert. Absehbar ist: Entscheidend wird dann das Filmmaterial sein, das Doran und sein Team zusammengetragen haben. Weil es leicht als antiamerikanisch gelten könnte, zeigte sich Spiegel-TV, so munkelt die Branche, mehr als zögerlich. Umso mehr zählt, dass das öffentlich-rechtliche Fernsehen seinen vorweihnachtlichen Plan umgeworfen, den Film ins erste Programm gehoben und damit dafür gesorgt hat, dass ein kleiner Baustein für eine internationale Jurisdiktion aktiviert wird.

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