Heimspiele

Ampel ohne Volk Nur Rot-Rot-Grün hätte in beiden Teilen Berlins eine eigene Mehrheit

Elf Jahre nach der Wende ist Deutschland weiterhin geteilt, allerdings anders, als vorschnelle Kommentatoren weismachen. Eine entkrampfte Sicht hat die ideologisch aufgeladenen Zerrbilder weitgehend ersetzt. Kaum noch einer erschrickt vor der PDS. Deshalb konnte die CDU niemanden mehr aufrütteln, als sie gegen das Gespenst des Kommunismus eiferte. Und die Gymnasiasten im gut situierten Westberliner Zehlendorf orientierten sich unbekümmert an den Inhalten: Für sie war die PDS schlicht die konsequenteste Friedenspartei. Wie sehr die ideologische Haltung überholt ist, zeigt sich ex contrario an den Verbitterten, die aus zwar nachvollziehbaren Motiven in ideologischer Verhärtung verharren, dort aber eher zu bedauern sind. Monika Maron etwa fragt, warum die vormals Eingeschlossenen ihre "Wärter" in die "Schlüsselposition" gewählt hätten statt ihre Befreier, die Bürgerrechtler oder die Westparteien.

Die Antwort liegt auf der Hand: Die Berliner Westparteien sind im Osten die Sachwalter einer zwar bekannten, aber immer noch wenig familiären Ordnung, sie verströmen zwar kein Gefühl der Unfreiheit, aber doch eines des Unbehagens. Sozialismus sei Diktatur der Mehrheit über die Minderheit, hat Lenin gesagt. Vielleicht war es doch eine Mehrheit - der Nichtintellektuellen, der Arbeiter und Kleinbürger -, die sich, mal verdrossen, mal motzend, kaum je aus wirklich ideologischer Überzeugung, in einer lebensweltlichen Symbiose der Scheinheiligkeit mit der SED ganz gut arrangiert hatte, zumindest in Ostberlin. Wenig konnte so beeindrucken wie die beiden Proletarier, die 1990 in einer Fernsehdiskussion aufstanden und meinten, von Bärbel Bohley ließen sie sich nicht regieren. Von Monika Maron wohl ebenso wenig.

Der ehemalige taz-Redakteur Klaus Hartung, der bei der Zeit in Hamburg offenbar jeden realistischen Blick auf Berlin verloren hat, beschreibt Berlin, als hätte sich seit den achtziger Jahren nichts verändert. Längst sind doch die Protestkulturen gepfropft, und das raum- und zeitferne Staatsbiotop, das Berlin aus unterschiedlichen Gründen einmal war, ist hie mit der DDR, da mit den Berlinsubventionen an der rauen neoliberalen Wirklichkeit zerrieben worden. Nur noch der verknöcherte Blick des Kalte-Kriegsideologen diagnostiziert die PDS als eine "Partei des Parteienverdrusses zwischen Ressentiment und Besserwisserei". Ein Blick, der überholt, aber vor allem ungenau ist und deshalb politisch ins Leere zielt: Der bayrische CSU-Landesgruppenvorsitzende Glos hat das klar erkannt.

Allerdings hat die CSU in diesem Punkt auch Heimvorteil: Einstens drang sie neben der CDU auf den Status einer eigenständigen Regionalpartei, denn als bloßer Teil der CDU bangte sie um die Integrationskraft gegenüber ihrer separatistisch-preußenfeindlichen Klientel.

Die PDS ist ebenfalls eine Regionalpartei, und nicht nur, weil sie nur im Osten existiert. Sie ist die einzige Partei, die in Berlin, wo alle Westparteien unmittelbar vom großen Bruder aus dem Westteil majorisiert sind, ein obsolet gewordenes Lebensgefühl lebendig verkörpert, ebenso wie dessen Transformation in neue unbekannte Verhältnisse. Sie wurde dadurch zum Forum, in dem verratene Ideale, geduldetes Unrecht, alltägliche Verstrickung und Versuche der Neuorientierung die Chance erhalten, kollektiv verarbeitet und zu neuen Energien gebündelt zu werden (und ein "Kollateralerfolg" sozusagen, etwa wenn es im Afghanistankrieg um Rechtsnormen geht, ist die geschärfte Sensibilität gegenüber neu aufkeimender Scheinheiligkeit - sie als Besserwisserei abtun ist zumindest unklug). Die PDS wird durch ihre Ausnahmestellung immer mehr nicht nur die Nachfolgepartei der SED, sondern der gesamten DDR. Es ist ein großes Spektrum von lebensweltlich-praktischen Problemen, die die Ostberliner über ihre Partei zu lösen versuchen: Die PDS hat damit die klassische Integrationsfunktion einer Volkspartei, durchaus im herkömmlichen Sinn.

Wo Lebensgeschichten verschieden bleiben, sind es auch die repräsentativen und emotionalen Anforderungen an die politische Landschaft. Berlin könnte ihnen im neuen Senat arithmetisch leicht gerecht werden. Ein eigenständiger Senat in Ostberlin wäre ohne die PDS (47,6 Prozent) nicht regierungsfähig. In einem Westberliner Senat dagegen hätte ein rot-rotes Bündnis allein keine Mehrheit. Die einzige der Koalitionsoptionen, die in beiden Teilen für sich genommen die Mehrheit hätte, wäre Rot-Rot-Grün. Die Ampel dagegen, die in Westberlin 58 Prozentpunkte erzielt und in Gesamtberlin ebenso viel wie die PDS im Osten, ist im Osten ohne Mehrheit. Sie kommt gerade auf 34 Prozent.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden