Was der FAZ-Kulturchef Frank Schirrmacher ein "mit antisemitischen Klischees" spielendes "Dokument des Hasses" genannt hat, ist in Wirklichkeit die typisch Walser´sche Gebrauchsprosa. Sie ist denen gewidmet, "die meine Kollegen sind", den pulsierenden Margen zwischen Starkult und Demütigung hilflos ausgeliefert. Wer je die heiß gemachte und dann fallengelassene Kartoffel war, wer sich je peripher oder zentral, zeitweise oder dauerhaft von der Macht des Marcel Reich-Ranicki getroffen gefühlt hat und der Lächerlichkeit preisgegeben sah, soll sich zwei Stunden lang so richtig auf dessen Kosten amüsieren. Wie sonst auch scheut Walser weder Provokation noch mauvais gout und legt seinen Figuren stilistisch verbrämten Klatsch und Tratsch in den Mund. So mündet, was ein besoffener Schriftsteller vom Stapel lässt, nicht in einer banalen Zote, sondern in der Aufforderung, man solle dem Großkritiker "mit dem Zoom aufs Mundwerk fahren, dass endlich mal das weiße Zeug, das ihm in den Mundwinkeln bleibt, groß herauskäme, der vertrocknete Schaum ... Der ejakuliert doch durch die Goschen, wenn er sich im Dienst der doitschen Literatür aufgeilt." Das Publikum, der Quartettkonsument, erlebt als Leser ein analoges Vergnügen - den höhnenden Rückstoß gnadenlos unterhaltsamer Verdikte. Man lacht mehrschichtig: über Reich-Ranickis Pointen, über ihre Entlarvung, über die ausgestellte Eitelkeit.
Zu den wiedererkennbaren Figuren gehört auch Rainer Heiner Henkel, von dem der Kritiker in stundenlangen nächtlichen Telefonaten seine Einfälle bezieht. Pate stand der Rhetorikprofessor Walter Jens, die Freundschaft zu und das Zerwürfnis mit ihm wurden in vielen Talk-Shows ausgebreitet. Rainer Heiner Henkel hat für den Kritiker eine "Spracheigentümlichkeit" ersonnen, weil sie so leicht zu imitieren ist, was Popularität schafft. Bei Sätzen wie "in der keleinen und keleinsten Form gelingt ihm gelegentlich durchaus Gutes, manchmal sogar Vorzügeliches, aber im Roman: Eine Enttoischung nach der anderen" lacht man nun über den gelungenen PR-Gag; eine Idee, die künftig am wirklichen Vorbild kleben wird. Noch Perfideres führte Walser mit dem Romantod des Verlegers Pilgrim alias Unseld im Schilde. Bei künftigen Trauerfeiern wird Reich-Ranicki sich schwer von den vorweggenommenen Reden und Fernsehinterviews absetzen können.
Das alles sind bewusst intendierte Provokationen. Man darf sie für geschmacklos halten, aber den Rahmen des satirisch Üblichen sprengen sie nicht, zumal sie, ebenso wie die als antisemitisch inkriminierten Sätze, Schirrmacher wusste es, "Rollenprosa" sind. Solche Sätze gegen ihren Autor zu verwenden, ist prinzipiell unsinnig. Fatal ist dagegen, wenn eine Institution des deutschen Feuilletons wie Schirrmacher behauptet, die imitierte Spracheigentümlichkeit des Kritikers André Ehrl-König (alias Marcel Reich-Ranicki) sei verballhorntes Jiddisch. Weil das so offensichtlich falsch war, haben Karasek und andere Kommentatoren daraus "Jüdeln" gemacht, ein - wie es scheint - neues antisemitisches Klischee, das bisher so noch nicht in Erscheinung getreten ist.
Das Buch als antisemitisch einzustufen deutet eher auf verdrängte Schuld hin, oder auf Begleithysterie in der Möllemann-Debatte. Sofern es sich um Versatzstücke aus dem "Repertoire antisemitischer Klischees" handelt, die Walser seinen Figuren in den Mund legt, muss man ihm noch dankbar sein. So werden sie diskutiert, kann geprüft werden, ob sie etwas in der Welt aufgreifen und beschreiben; anders könnte ein Roman Zeitströmungen nicht thematisieren.
Danach sähe man sich plötzlich in der aberwitzigen Situation, mit Walser gegen den Antisemitismus zu kämpfen. Aberwitzig insofern, als Walser zweifellos, als Person, zunächst 1998 in der Paulskirche und zuletzt am 8. Mai im Willy-Brandt-Haus, antisemitisches Denken nolens volens befördert hat, durch sein altersstures Festhalten an einem "altbackenen" Nationalbewusstsein (Ruth Klüger). Wer die unverzichtbare Auseinandersetzung mit den Verbrechen der deutschen Geschichte stoppen will, wer das in freien Wahlen inthronisierte Naziregime als historische Begleiterscheinung verniedlicht, wer die Verbrechen in Auschwitz verharmlost, wer nach dem Wegschauen damals für das Recht zum Wegschauen eintritt, wer Versailles für Auschwitz als ursächlich bezeichnet, hat nicht verdient, im Namen einer politischen Unkorrektheit in Schutz genommen zu werden; Walser diese "Freiheit" des Schwadronierens gelassen zu haben, war in der Tat eine Niederlage. Durch Verunglimpfung des Romans lässt sie sich nicht gutmachen. Ernsthafte Kritik ist Bringschuld, auch Walser gegenüber.
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