Strukturell verantwortungslos?

ZERSTREUTE ÖFFENTLICHKEIT Wie sich Wissenschaft und Politik mit der Entpolitisierung der Medien abplagen

Früher war der Marktplatz zugleich Ort der Zusammenkünfte. Dort sammelten sich die Familienoberhäupter, die dafür aus ihren Privatsphären herausgetreten waren, und berieten sich über die Belange des Stadtstaats (Polis). Was dabei herauskam, setzten die Machthaber um. Diese altgriechische Urvorstellung demokratischer Öffentlichkeit wurde nach der französischen Revolution zum politischen Leitgedanken. Wissenschaftler sahen ihn von zahlungskräftigen Interessensgruppen vereinnahmt, so dass andere zur Bildung von Gegenöffentlichkeiten aufriefen. Und Historiker haben gezeigt, dass der Gedanke nie zur Wirklichkeit drang. Trotzdem scheint er, wie das Symposion Zerstreute Öffentlichkeiten zeigte, als regulative Idee seine Attraktivität nicht eingebüßt zu haben. Nur findet die Debatte heute nicht mehr auf Marktplätzen, sondern in den Medien statt. Die Medienbranche ist zur Schlüsselindustrie geworden, Meinung, Information (und Unterhaltung) werden täglich in bunter Vielfalt produziert. Der Riesenkomplex hat eine Unübersichtlichkeit erreicht, von der sich Wissenschaftler, Medienschaffende und Politiker, die sich in Berlin trafen, ungleich, doch gleichermaßen alarmiert sehen. Deshalb wohl konnte sich das veranstaltende Bundespresseamt ein ungewohntes Stück Anmaßung erlauben: den Vortragenden, einer illustren Wissenschaftlerrunde, den Titel vorzuschreiben. Der Protest wurde zwar zum running gag, aber das Programm erwies sich als erfreulich strukturiert und ließ Konturen erkennen.

Öffentlichkeiten, zerstreut und im Plural: man hätte sich - wie im angelsächsischen Raum die cultural studies - auf die Suche nach der Diversität des Öffentlichen begeben können, weil sich ein allgemeiner Raum als Illusion erwiesen habe. Eher entgegengesetzt scheinen die deutschen Kultur- und Sozialwissenschaften zu denken. Das Öffentliche sehen sie durch die Medien als Struktur bestimmt, die sich mit Marshall McLuhan selbst genügt (das Medium ist die Message). Festgelegte Formate, starre Informationsselektion, der Aktualitätsstress, Standard- und Modethemen, wachsende Konkurrenz um Einschaltquoten entzögen die Medien dem gestalterischen Einfluss der medienschaffenden Subjekte. Wie Luft oder Wasser, das als Träger von Schadstoffen, Trink-, Spül- oder Badewasser gleichermaßen diene, sei auch das Medium »Kommunikation« inhaltsneutral und verhalte sich nicht im geringsten dazu, ob sein Inhalt die Tagesschau, die Talkshow oder ein Container sei. Das mag übertrieben klingen, doch selbst wo der uneingeschränkten Eigendynamik der Medien - im Namen des urteilsfähigen Rezipienten - widersprochen wurde, stand bei den Forschern doch außer Frage: Diesen Ansatz gilt es auszureizen. Die Medien seien, sagte Hartmut Böhme vom mitveranstaltenden kulturwissenschaftlichen Seminar der Humboldt-Universität, »strukturell verantwortungslos« - und entfachte damit einen Zimmerbrand.

Die provozierende Formulierung hatte genügt, dass sich der Chef des veranstaltenden Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Uwe-Karsten Heye und Kultur-Staatsminister Michael Naumann, beide mit journalistischer Vergangenheit, zu einer flammenden Widerrede gegen die vermeintliche Denunziation aller redlichen Journalisten herausgefordert sahen. Hie bodenständige Ermutigung also, und dort nur respektlose Aperçus aus dem künstlich geschützten Hort? Eher schwante es einem, dass, würde die Politik sich den Überlegungen der Wissenschaftler ernsthaft öffnen, aus dem Zimmer- schnell ein Flächenbrand würde.

Der Streit zeigt klar die Frontlinie, die Wissenschaftler von Politikern trennt. Konzentrierten sich jene (womöglich theorieverliebt) auf ihr Paradigma, wollten diese (schnelle) Rezepte gegen die Entpolitisierung der Medien. Vermochten jene spielend von den Folgen ihrer Überlegungen zu abstrahieren, hatten diese nolens volens die unmittelbare Wirkung ihrer Äußerungen im Visier, oder was das gleiche ist: die Ambiguität des Politischen im Hinterkopf. Denn gehört es nicht zur Politik, mit jeder tagespolitischen oder grundsätzlichen Überlegung unmittelbar in der Öffentlichkeit zu stehen, was zwangsläufig zu einer Selektion des Vermittelbaren führt?

Vermutlich wird die Welt tatsächlich »luhmannscher«, wie ein Teilnehmer meinte. Die immer schneller sich wandelnde Medienwelt entzieht sich der politischen Gestaltung, schon weil die staatliche Gesetzgebung mit dem Tempo nicht schritthält. Umgekehrt müssen sich die Medienmacher den Eigengesetzlichkeiten der Medien zunehmend unterwerfen. Beim Kampf um Leser- Einschalt- und Anklickquoten geht es nicht nur um Geld, sondern um die knappe, »nicht speicherbare« Ressource »Aufmerksamkeit« (Siegfried J. Schmidt). Das Interesse zerstreut sich: Wissenschaftler wollen das erklären, analysieren, spüren den neuen Entwicklungen nach, sind von der Dynamik des Gegenstands in Bann gezogen - ohne Rücksicht auf die Konsequenzen.

Für Politiker ist das unbefriedigend. Wenn sich denn zeigt, dass der Kuchen der Politik kleiner wird und ihr Einfluss schwindet, dringen Politiker umso stärker auf praktische Lösungen, (die freilich nicht sichtbar waren). Dafür geben sie sich mit pauschal-resignativen Trivialanthropologien zufrieden (Michael Naumann sprach vom »ewigen Unterhaltungsbedürfnis der Menschen«). Zweimal aber leuchtete ein Hoffnungsstreifen in die verdoppelte, je aus der Sicht des anderen kulturpessimistische Szenerie. Eine Teilnehmerin hatte beobachtet, dass die jüngere Generation auch ohne Zeitungslektüre politisch erstaunlich umfassend informiert sei. Nur wenn die Wege der Informationsgesellschaft für die Nutzer offen blieben, ergänzte Claus Leggewie, lasse sich die digitale Spaltung der Gesellschaft vermeiden, welche die ohnehin bestehende noch verschärfen würde. Und auch der Soziologe Oskar Negt, schon in der Diktion eine faszinierende Mischung aus Ernst Bloch und Willy Brandt, zeigte, was ihn zum Politikberater macht. Man dürfe sich, meinte er gewinnend suggestiv, von der Oberfläche des Technikfetischismus nicht blenden lassen. Darunter gelte es, die brüchig gewordene Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum zu sichern und zu restaurieren. Worauf sich die Politik denn doch noch ans Werk machen kann.

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