Die Leiden einer Amerikanerin

Siri Hustvedt Mit „Die ­zitternde Frau“ bringt Siri Hustvedt das Geschichten­erzählen in die medizinische Praxis zurück

Es gibt Bücher, Neuerscheinungen zumeist, deren medialer Sog eine derartige Kraft entfaltet, dass sie von einer Bugwelle an einen heran gespült werden: hartnäckig und in der Wiederholung euphorischer Rezeption verführerisch. Der an der öffentlichen Meinung geschulte Reflex lässt einen zugreifen.

Das geschieht auch im Fall von Siri Hustvedts neuem Buch. Nonchalant blickt einem die Autorin vom Cover des schmalen, etwas über 200 Seiten umfassenden Bandes entgegen. Auf einem Schwarzweißfoto liegt sie, bis zur Taille sichtbar, mit aufgestütztem Oberkörper auf dem Boden. Ein dunkler Rollkragenpullover betont die vom Stoff unberührten hellen Konturen: das ernste, schmale Gesicht und die feingliedrigen Hände. Anmutung und Typografie des Titels, Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven, inszenieren dessen autobiografische Essenz mit der Fragilität seiner Ich-Erzählerin.

Die 54-jährige Autorin, die in New York lebt und mit dem Roman Die unsichtbare Frau 1992 erst in den USA, dann im Jahr darauf in Deutschland debütierte, nimmt das Symptom einer persönlichen Erschütterung zum Ansatzpunkt für eine analytische Schnitzeljagd über einen Moment der Schwäche und dessen mögliche Ursachen bei einem öffentlichen Auftritt.

Vom Hals abwärts

Während einer Gedenkfeier zur Würdigung ihres verstorbenen Vaters, eines Professors für norwegische Sprache und Literatur, auf dem Campus seiner Universität in ihrer Heimatstadt Northfield in Minnesota verliert die Schriftstellerin die Kontrolle über ihren Körper. Etwas über zwei Jahr nach dem Tod des Vaters tritt sie gut vorbereitet für diesen Anlass, die Karteikarten befinden sich in ihrer Hand, vor eine Gruppe von Freunden und Kollegen.

Doch beim ersten Wort ihrer Rede beginnt sie krampfartig „vom Hals an abwärts zu zittern“. Sie spricht – und zittert zugleich. Hustvedt ist seit ihrer Kindheit mit der Unberechenbarkeit von Körper und Geist vertraut. Dieser Topos durchzieht ihr künstlerisches Werk, auch ihren 2004 entstandenen Text, Auszüge aus einer Geschichte des verwundeten Selbst, der zwei Jahre später auf Deutsch in der Essaysammlung Being a Man veröffentlicht wird.

1982 erlebt sie einen ersten, ähnlichen Krampfanfall und hat in Folge ein Jahr lang „brutale Migräne“, mit der sie auf einer neurologischen Station landet. „Ich habe mich mit mir als einem schrillen, spastischen, flatterigen Körper abgefunden, der schuften muss, um Ruhe, Frieden und Erholung zu finden.“

Wo andere sich mit der medizinischen Diagnose und nachfolgender Medikation zwecks Stabilisierung in der Störung zufrieden stellen lassen, pflügt Hustvedt in akribischer Recherchewut das Feld der Neurologie, Psychiatrie und Psychoanalyse. Sie schreibt einen Roman, Die Leiden eines Amerikaners, dessen Hauptfigur ein Psychiater ist und der 2008 veröffentlich wird. Sie belegt eine Vorlesung über Hirnforschung, interessiert sich für Neuropsychoanalyse und unterrichtet ehrenamtlich Patienten einer psychiatrischen Klinik im Schreiben.

Als an jenem Tag während der Gedenkfeier das Zittern am ganzen Leib beginnt, ist Hustvedt bereits ein Laie mit Expertise auf dem Gebiet eigener und fremder Nerven. Ihr Mann, der ein wenig berühmtere Schriftsteller Paul Auster, dem in allen Texten über Hustvedt Reverenz erwiesen wird und den sie selbst in ihrem Werk gern als Steilvorlage anbietet, erkennt in dem „gierigen Lesen“ Ähnlichkeiten mit einer Sucht.

Hustvedt ist zweifellos eine Fleißarbeiterin mit streberhaftem Zug; 17 und eine halbe Seiten umfassen die Anmerkung zu ihrem neuen Buch. Diese Detailbesessenheit, ihr umfangreiches Wissen stehen der Kunst manchmal im Wege. Doch gelingt ihr in Die zitternde Frau in großen Zügen die positive Transformation der Unbeherrschbarkeit ihrer Existenz, der Fragmente ihres verwundeten Selbst zu einer verzweigten Exkursion durch die Mysterien von Körper, Geist und Gehirn in Folge wechselnder wissenschaftlicher Strömungen und intellektueller Moden.

Mit zahlreichen Beispielen navigiert sie eloquent durch die Begrifflichkeiten; wie diese sich etwa im Fall der Hysterie mehrfach ändern und neu bewertet werden. Sie tritt in ein Zwiegespräch mit imaginierten Experten – Psychiater, Psychoanalytiker und Neurologen – und konfrontiert sie mit ihrem Wissen über Epilepsie, Migräne, Schizophrenie und ihrer Selbstdiagnose Konversionsstörung, der zeitgemäßen Begrifflichkeit für Hysterie.

Geheimnisvolle Zuckungen

Hustvedt zitiert Theoretiker, etwa Lacan, Wittgenstein und Husserl, und vertieft sich in die Naturwissenschaft. Sie favorisiert wie Rita Charon, eine Medizinerin und Literaturwissenschaftlerin, die Form der narrativen Medizin. Charon sehe es als ihre Aufgabe, das Geschichtenerzählen in die medizinische Praxis zurückzubringen, damit die Realität des Leidens Einzelner nicht verloren gehe.

Hustvedt selbst kehrt in ihrem Buch immer wieder zum Topos der zitternden Frau als Schlüsselmoment in ihrem Leben zurück, der universell gelesen werden kann. Das macht es lehrreich, gleichsam aber auch enervierend. Der Musterkatalog der Krankheiten, auch der persönlichen, und ihrer Interpretationen ist unerschöpflich.

Nach ihren „geheimnisvollen Zuckungen“ bringt die Schriftstellerin ein „anderes neurologisches Rätsel auf den Tisch“, an dem die Mutter und die drei Schwestern versammelt sind: auditive Halluzinationen. Ein Phänomen in der Familie, stellt sich heraus, da gesteht eine der Schwestern, die einzige nicht halluzinierende, dass sie sich etwas ausgeschlossen fühle; ein Witz unter Intellektuellen.

Listen werden abgearbeitet, unter anderem die bipolarer Dichter und Denker sowie berühmter Epileptiker – wer unter Nervenschwäche leidet, befindet sich in guter Gesellschaft. Nach mehr als 190 Seiten fühlt man sich an einen Hypochonder erinnert, der beharrlich durch das Klinische Wörterbuch „Pschyrembel“ blättert. Fünf Seiten später liest sich der Satz „Krankheit schafft nicht zwangsläufig Einsicht“ als ketzerischer Kommentar zum anschwellenden Textfluss.

Nach ihren Fantasieausflügen zu imaginierten Experten begibt sich Hustvedt in Therapie. Mit einem Medikament unterdrückt sie vor öffentlichen Auftritten das Symptom des Zitterns. Doch kein Arzt kann ihr sagen, „wer die zitternde Frau ist“.

So kommt die Schriftstellerin am Ende des Buches zu einer Sowohl-als-auch-Erkenntnis, die pragmatisch orientierte Zeitgenossen vorab konstatiert hätten: Die Zweideutigkeit von Krankheit und Diagnose lässt „nichts Dingfestes“ zu, „es gibt zahlreiche Faktoren, die auf den verschlungenen Pfaden der zitternden Frau eine Rolle spielen oder nicht“. Auf der Schnitzeljagd nach dem verwundeten Selbst gibt es am Ende kein Allheilmittel als Belohnung, es entsteht kein konformes Bild; aber die Einsicht, dass das Sammeln fragmentarischer Schnipsel und ihre Anordnung in der Erzählung einen Weg zum autobiografischen Zusammenhang markieren.

Die zitternde Frau. Eine Geschichte meiner Nerven Siri Hustvedt. Aus dem Amerikanischen von Uli Aumüller, Rowohlt, Hamburg 2010, 240 S., 18,95

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden