Tiefblau ist der Ozean, der die Leinwand füllt, entrückt klingt die Musik, die den Wal, der sich ins Bild schiebt, begleitet. Vor Schmerz verzerrt sich das Gesicht der Frau, die ihre Kinder zur Welt bringt. Das Meer, der Wal, die Menschwerdung - der neuseeländische Film Whale Rider, der in den letzten Monaten auf einer Welle der Sympathie von einem Festival zum anderen getragen wurde, schwimmt tief in mystischem Gewässer.
Mit einem sehr viel doppelbödigeren Blick auf die Wunder der neuseeländischen Berg- und Seelandschaft stieg noch vor fast zehn Jahren Lee Tamahoris Die letzte Kriegerin ein. Das malerische Idyll der ersten Einstellung entpuppte sich damals umgehend als Werbeplakat, als die Kamera weiter auf einen Highway schwenkte. Dort brauste der Verkehr, un
brauste der Verkehr, und gleich daneben wohnte eine siebenköpfige Maori-Familie. Nie zuvor hatte ein Autor das Elend der Ureinwohner Neuseelands, die heute 15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, so drastisch zu Papier gebracht wie Alan Duff, auf dessen Roman Once Were Warriors Tamahoris Film basierte.Die Interpretation dessen, was die Maori-Gesellschaft ausmacht, lag seit der Inbesitznahme Neuseelands durch die englische Krone im 19. Jahrhundert in den Händen der Nachfahren der europäischen Kolonialherren. Da die Geschichte der Maori, die rund 1000 Jahre vorher aus dem polynesischen Raum auf den Inseln im Südpazifik gelandet waren, mündlich überliefert wurde, dominierte lange Zeit eine eurozentristische Darstellungsweise über sie.Seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts änderte sich das langsam. 1975 wurde von der damaligen Labour-Regierung das Waitangi-Tribunal eingerichtet, welches die Ungerechtigkeiten dokumentierte, die aus dem 1840 unterzeichneten Vertrag resultierten. In den Achtzigern kam es vereinzelt zu Landrückgaben und Entschädigungszahlungen. Seit 1987 ist Maori neben Englisch offizielle Landessprache, und Neuseeland versteht sich als bikulturelle Gesellschaft.Innerhalb der Maori-Community regt sich immer lautstarker Protest, wenn eines ihrer Themen von einem Pakeha (das heißt einem Neuseeländer europäischer Herkunft) interpretiert wird. In diese Situation geriet die 1966 geborene Regisseurin Niki Caro, als ihr die Verfilmung des Buches Whale Rider von dem Maori-Schriftsteller Witi Ihimaera angeboten wurde. Ihimaera hatte das Buch 1987 geschrieben und seinen beiden Töchtern gewidmet, die der um Hilfe schreienden Frauen in Actionfilmen überdrüssig waren und sich eine weibliche Heldin gewünscht hatten.Buch und Film verknüpfen eine 1000 Jahre alte Legende der Maori mit dem Kampf eines zwölfjährigen Mädchens um die Liebe ihres Großvaters und die Anerkennung als legitime Nachfolgerin des "Walreiters". Die an der Ostküste der Nordinsel lebenden Te Tai Rawhiti glauben, dass ihr Vorfahre Paikea auf dem Rücken eines Wals nach Neuseeland kam. Sein Nachfolger ist seit Generationen der erstgeborene Sohn eines Häuptlings. Diese Ahnenreihe wird durchbrochen, als bei der eingangs geschilderten Geburt der Zwillinge sowohl der Junge als auch seine Mutter sterben. Nur das Mädchen, nach dem Walreiter Paikea genannt, überlebt. Doch der sture Familienpatriarch Koro kann sich eine Frau an der Spitze seines Volkes nicht vorstellen und sucht unter den Jungen des Dorfes einen würdigen Nachfolger.In der Rolle der zwölfjährigen Paikea überzeugt die Debütantin Keisha Castle-Hughes. Die weiteren Hauptrollen sind mit erfahrenen Schauspielern wie etwa Cliff Curtis besetzt, der seit seiner Rolle in Die letzte Kriegerin zu den erfolgreichsten Schauspielern Neuseelands gehört, die in internationalen Produktionen besetzt werden (Three Kings).In den letzten Jahren machte Neuseeland vor allem als Drehort der Herr der Ringe-Trilogie von sich reden. Originäre Stoffe aus Aotearoa, dem Land der langen weißen Wolke, wie die beiden Inseln in der Sprache der Maori heißt, kamen in den Neunzigern mit Filmen von Jane Campion (Ein Engel an meiner Tafel, Das Piano) oder Peter Jackson (Heavenly Creatures) in die Kinos. In all diesen Filmen spielen die Maori nur eine Nebenrolle. Ausschließlich von und mit Maori besetzte Produktionen ließen sich an zwei Händen abzählen. Vor zwei Jahren drehte der Schauspieler und Regisseur Don Selwyn den ersten Film ganz in Maori. The Maori Merchant of Venice, nach einem Stück von Shakespeare, erregte in der Presse und auf Festivals Aufsehen, wurde aber - mit englischen Untertiteln - nur wenig aufgeführt.Ganz anders ergeht es Whale Rider. Der Film, dem man ursprünglich einen weltweiten Verleih nicht zugetraut hatte, machte von sich reden, als er im September letzten Jahres den Publikumspreis in Toronto erhielt; Auszeichnungen in Sundance und Rotterdam, San Sebastian und San Francisco folgten. Der Grund für diesen überwältigenden Erfolg mag allerdings darauf zurückgehen, dass der Film trotz seines exotischen Settings eine altbewährte Kinogeschichte erzählt: Held(in) wider Willen überwindet alle Barrieren und triumphiert am Ende. Konfrontierte Die letzte Kriegerin noch das Publikum mit der sozialen Realität einer Maori-Familie, schickt Whale Rider seine tugendhafte Hauptdarstellerin Paikea auf spirituelle Sinnsuche. Die Sympathie des Publikums - und dessen Tränen - sind ihr gewiss. Ein Konzept, das, trotz unterschiedlicher Problematik, bereits den australischen Film Long Walk Home über die "stolen generation" der Aborigines aus dem Arthouse-Kino in die Multiplexe und in eine große Öffentlichkeit brachte.Politisch korrekt, feministisch angehaucht und in traumhafter Landschaft gedreht, gibt es gegen Whale Rider nichts zu einzuwenden - außer dass er bei seinem Tauchgang in die Tiefen der Mystik ein nicht allzu modernes Rollenvorbild einer jungen Maori-Frau an die Oberfläche bringt. Etwas mehr vom aufmüpfig anarchischen Geist einer Pipi Langstrumpf und etwas weniger vom duldsamen Leidensweg einer Jeanne d´Arc hätten nicht geschadet.