Alltag Die DDR war ein Land der Nestwärme - kaum einer dachte an Heimweh. Heute erzeugen zwei Millionen Arbeitsmigranten aus den neuen Bundesländern einen regelrechten Heimwehmarkt
Heimweh, sagt S., ist ein schönes altes Wort. Zusammengesetzt aus Heim und Weh. Er ist an der Ostsee großgeworden, und vor dem Heimweh kam das Fernweh. Er fuhr mit dem Schiff hinaus, wie schon sein Vater und sein Großvater. Das erste Mal, als er 17 war und gerade verliebt. Auf dem Wasser hat er das Heimweh kennen gelernt und wurde fast verrückt. Die Angst, es könnte sich etwas zu Hause verändern, er würde zurückkommen und sich nicht mehr zurechtfinden. Er hat sich dann mit dem Meer unterhalten, wochenlang. Als er wieder heimkam, war seine erste große Liebe mit seinem besten Freund zusammen. Es hat ihm nichts mehr ausgemacht. Die Wochen mit dem Meer hatten ihn selbst verändert.
Nahezu jedes DDR-Kind fuhr irgendwann ins Ferienlager. Ich war ei
ger. Ich war ein DDR-Kind, also fuhr auch ich. Das erste Mal, als ich sechs war und gerade mein erstes Zeugnis bekommen hatte. Auf einem staubigen, grauen und sehr leeren Parkplatz in Mitte stieg ich in einen Bus, meine Mutter stand draußen und winkte. Alle fuhren ins Ferienlager; ich war völlig arglos. Dann fuhr der Bus ab und hielt erst wieder in einem Ort, der damals noch Marxwalde hieß. Dort machte ich zwei bemerkenswerte Entdeckungen.Erstens zerfiel die bis dahin noch ganz intakte Menschheit plötzlich in zwei Teile. Nicht in Sozialismus und Kapitalismus, nicht in Freunde oder Feinde. Es war simpler und unbegreiflicher: Die einen hatten Heimweh. Und die anderen nicht. So wie die Schwestern Doreen und Katrin, die die Zeit fern von daheim genossen und nicht verstanden, weshalb ich permanent rechnete: Ich zählte die Stunden, bis ich wieder nach Hause durfte - vierzehn Tage lang.Zum anderen entdeckte ich die ansteckende Wirkung dieser überwältigenden Krankheit: Es dauerte keine Viertelstunde, bis ich am ersten Abend, ins Kissen heulend, einen zwanzigköpfigen Schlafsaal komplett infiziert hatte. Am Ende heulten alle.Im Grunde hat sich später nicht viel geändert. Die einen gingen weg aus dem kleinen Land. Die anderen blieben. Nur war es komplizierter geworden. Es gab Weggeher, die nicht aus Fernweh gingen und unter dem Weggehen litten, und es gab Hierbleiber, die unter dem Bleiben litten. An einem Abend im Sommer 1989 saß ich vor dem Fernseher und sah die ZDF-Nachrichten. Eltern hoben ihre Kinder über den Zaun der BRD-Botschaft in Prag. Ich schaltete um auf die Aktuelle Kamera und hörte den offiziellen DDR-Kommentar: "Wir weinen ihnen keine Träne nach." Kurz zuvor hatte sich auch mein bester Freund verabschiedet. Das war der Moment, in dem ich die Fassung verlor. Diesmal war ich allein. Und die ganze Republik war zum Schlafsaal geworden.Es war diese eine, letzte Schäbigkeit, die das Fass zum Überlaufen brachte. In diesem Moment verabschiedete ich mich von jenem merkwürdigen Land, das dennoch ein Zuhause gewesen war. Das wie kaum ein anderes auf das Bleiben seiner Bürger angewiesen war wie auf deren Geist, den es andererseits nicht aushalten konnte. Ein Land, in dem ein Schulfach Heimatkunde hieß und in dem so viel von Heimat, Idealen und der Unentbehrlichkeit jedes einzelnen die Rede war. Ein Land, das permanent unter Arbeitskräftemangel litt und eine Mauer baute, um die Arbeitskräfte am Weggehen zu hindern. Und das dennoch ausblutete. "DDR" wurde am Ende nur noch mit müdem Spott buchstabiert: Der doofe Rest. Und: Der Letzte macht das Licht aus. Es war nicht einmal mehr ein Witz. Dachte in diesem Moment, in dem die "Nestwärme" uns fast erstickte, irgendwer an Heimweh? Oder wurde das Heimweh schlimmer, weil es kein Zuhause mehr gab?Die DDR war buchstäblich ein Land der Sesshaftigkeit. Selbst das Umziehen war schwierig, weil Wohnungen knapp waren. Der Staat war winzig wie autoritär, mit Stacheldraht umzäunt, das Fernweh konnte zum Schluss noch in der Tschechoslowakei, Ungarn, der Sowjetunion oder Bulgarien gestillt werden. (Wir träumten nicht von Düsseldorf, sondern von Indien, New York, Liverpool.) Freunde waren überlebenswichtig. Selbst das geriet zum Treppenwitz: Wer sich der zwanghaft kontrollierenden Allmacht des "Kollektivs" entziehen wollte, brauchte in erster Linie - ein möglichst überwachungsfreies Kollektiv von Vertrauten. Vielleicht bekommen in einer so begrenzten Welt Begriffe wie Wurzeln, Freunde, Zuhause, Bindungen eine überzogene Bedeutung, werden Fernweh wie Heimweh gleichermaßen zu unangemessenen Kategorien.1990 zogen wir unvermittelt in den Westen um, ohne auch nur die Wohnung gewechselt zu haben. Wir hatten nicht von Düsseldorf geträumt, aber es war jetzt da. Ein Zuhause ist nicht an Ideologien oder Systeme gekoppelt, aber das Land, in dem wir gelebt hatten, war über Nacht von der Landkarte verschwunden. Vertragsgemäß in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1990. Die Welt stand offen, wir alle konnten gehen. Ich ging auch. Nach Barcelona, nach Belfast. Das Heimweh kam mit, auch wenn ich froh war, weg zu sein.Als ich zurückkam, waren etliche meiner Freunde bereits umgezogen: manche freiwillig - Wohnungen waren nun kein knappes Gut mehr -, manche nicht ganz so freiwillig: die Altbauviertel von Mitte und Prenzlauer Berg waren begehrt und teuer geworden. Wir zählten irgendwann nicht mehr die Robben, die wir in den 90ern für Freunde be- und entluden. Dass es manchen schwerfiel, sich von der vertrauten Umgebung zu verabschieden, stieß bei anderen auf Unverständnis. Probleme mit steigenden Mieten kommentierte ein Journalist ratlos mit dem Satz: "Ja, dann sollen die Leute doch einfach wegziehen!" Der Sanierungsbeauftragte für Prenzlauer Berg, selber aus dem Westen, erzählte mir, er sei in den letzten zehn Jahren mindestens fünfmal umgezogen, von Bezirk zu Bezirk. Er klang stolz. Er verstand nicht, was am Umziehen schwierig sein sollte. Es war immer seine eigene Entscheidung gewesen. Wer oft umzog, war, was man jetzt sein sollte: flexibel, mobil, dynamisch. Es waren die neuen Vokabeln. Es ging nicht mehr um ein Zuhause, um Wurzeln, es ging jetzt um gute, interessante Adressen.Ortlosigkeit, Ungebundenheit, Weltläufigkeit waren die neuen Insignien des Erfolgs. Berufsbiografien mit vielen Stationen und Orten zeugten davon, dass man es vielleicht noch nicht geschafft hatte, sich aber auf dem Weg dorthin befand. Unterwegs zu sein, ein Arbeitsnomade, war ein Auszeichnungsmerkmal.Ich verstand schon, warum manche meiner neuen Freunde aus dem Westen, die eine mobile Berufskarriere nach Berlin geführt hatte, sich vom Osten der Stadt angezogen fühlten. Sie verbanden das eine mit dem anderen: die Intimität und Geborgenheit einer Wahlheimat mit der Erfolgsmobilität: Sie schwärmten von Stadtvierteln, in denen sich irgendwie alle zu kennen schienen, wie in einem Hennenstall, und von den Ostküchen, die exotisch für sie waren und spannend, in denen ständig irgendwelche Freunde herumsaßen, die billigen Rotwein soffen, Küchen, in denen längst verflossen geglaubte Musik lief und kein Telefon störte, in denen die Leute miteinander redeten - worüber auch immer. Vielleicht hatten sie auch Heimweh. Heimweh ist nicht nur die Sehnsucht nach dem Zuhause, das man verlassen hat. Es kann auch die Suche nach einem Zuhause sein, das man noch nie hatte.Doch mit dem Ende des Sozialismus war die Sesshaftigkeit auch im Osten zum Auslaufmodell geworden: weil die Grenzen plötzlich überschreitbar, weil Wohnungen keine Mangelware mehr waren, und weil man Arbeit nun in Nürnberg oder Frankfurt oder München fand. Zwei Millionen Menschen verließen seit der Wende die neuen Bundesländer Richtung Westen. Von Mobilität zu sprechen, wäre angesichts dieser Dimension ein Euphemismus. Es gehen die Jungen, die Gutausgebildeten und überwiegend Frauen, während der Osten "verarmt, vergreist und verblödet", wie Wirtschaftsexperten warnen. Da war er wieder - der doofe Rest.In Weißwasser, Leinefelde oder Görlitz bleiben ältere Menschen zurück, in deren Erzählungen von ihren weggegangenen Kindern sich Schmerz und Stolz mischen. Stolz, dass ihre Kinder nicht zum "doofen Rest" gehören.Zwei Millionen Arbeitsemigranten erzeugen einen Heimwehmarkt. In Städten wie München oder Stuttgart gibt es Ostproduktläden, im Internet Rückhol- und Heimweh-Seiten, die MV4you heißen oder Sachse-komm-zurueck. In München gibt es inzwischen einen Stammtisch von Weißwasseranern, auf der Website Heimweh-nach-MV gibt ein Ticker für Exil-Mecklenburger die neuesten Termine von Stammtischen in Hildesheim und München bekannt.Die Arbeitsnomaden aus dem Osten nutzen modernste Technik, um ihr Heimweh in den Griff zu kriegen. Sie chatten per Netz-Messenger, weil man dort, anders als per mail, ein direktes "Gespräch" führen kann; in Internetforen unterhält man sich mit Freunden wie mit Unbekannten, die ebenfalls weggegangen sind, über die Erfahrungen in der Fremde. In den Foren geben sie sich Namen wie Brigade-Kueste, grüßen auch mal ironisch mit "Seid bereit", dem Gruß der Pioniere, und ein bisschen sind sie das ja auch wieder: Pioniere. Die Antwort des Pioniergrußes lautete übrigens: "Immer bereit." Sie hat die Arbeitsnomaden auf ironische Weise eingeholt, die nun genau das sind: immer bereit.Auf Seiten wie Heimweh nach MV liest man Sätze wie: "Wismar ist und bleibt meine Heimatstadt". Aber auch das: "Auch in MV ist es nicht mehr so wie vor 16 Jahren. Existenzängste und Neid haben ihre Spuren hinterlassen. Aber ich fahr immer wieder gern in die alte Heimat, um mir den rauen Ostseewind um die Nase pusten zu lassen..." Womöglich hat diese Sehnsucht auch etwas damit zu tun, dass es diese Heimat so nicht mehr gibt und nie mehr geben wird, weil sie sich rasant verändert hat. Mit wachsender Distanz wird das Bild schärfer und unschärfer zugleich, die Erinnerung teils nüchterner, teils freundlicher. Und manches erhält erst im Nachhinein einen Wert. Heimat gerinnt zu Bildern, zu Codes, die zwischen den Nomaden unsichtbare Verbindungen herstellen: Ortsnamen, Anspielungen, die nur die ehemals Sesshaften verstehen können, Dialekte. Aus der wirklichen Heimat wurde eine virtuelle.Wo Mobilität und Ortlosigkeit zum ökonomischen Zwang werden, wird auch das Heimweh zum ökonomischen Faktor. Die Agentur mv4you, ein Projekt des Landesministeriums für Arbeit, Bau und Landesentwicklung, versucht die jungen, gut ausgebildeten Arbeitsnomaden mit wertvoller Berufserfahrung, die sie im Westen oder im Ausland gesammelt haben, wieder nach Hause zu holen - dorthin, wo bald qualifizierte Fachkräfte fehlen werden. Die Website ist eine Mischung aus Arbeitsvermittlung, Kummerkasten und Austauschforum. Die Leiterin der Agentur, Sabine Ohse, sagt über ihr Klientel, für 85 Prozent der Rückkehrwilligen sei Heimweh das entscheidende Motiv. Und dass dieser Antrieb nach drei bis fünf Jahren am größten sei. Nur: Was es ist - dieses Heimweh, was es ausmacht - kann sie nicht recht definieren. Vielleicht, sagt sie, dass man in Mecklenburg traditionell sehr heimatverbunden ist. Vielleicht ist es die Landschaft. Vor allem aber seien es die Bindungen. "Bindungen, die zum Teil gar nicht mehr vorhanden sind," fügt sie hinzu. Der Satz klingt nüchtern bei ihr. Arbeitsnomaden sind flexibel und lernfähig und richten sich notgedrungen in ihrer neuen Welt mit neuen Werten ein. Es gab schon Vorschläge, die Seite in Heimweh-nach-MV umzubenennen, nicht mehr Heimweh zu sagen, sondern Sehnsucht. Heimweh klinge so negativ: nach Unbeweglichkeit, Rückwärtsgewandtheit ...Die modernen Nomaden - die es - mehr oder minder notgedrungen - geschafft haben, zahlen oft einen hohen Preis für ihre permanente Verfügbarkeit und Mobilität. Wo sich Bezugspunkte, Koordinatensysteme, Beziehungsgeflechte auflösen, nehmen Begriffe wie Zuhause oder Familie Luxuscharakter an. Partner sitzen in anderen Städten, man pendelt, man führt Wochenendbeziehungen. Die Sehnsucht gilt nicht nur Verschwundenem, sondern auch einem neuen Zuhause, das es nicht gibt. Man kann das Verlorenheit nennen.
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