Der Heiligenschein

Israel Zipi Livni geht mit der Idee vom Nationalstaat hausieren und wirkt dabei recht anachronistisch

Es klingt wie eine phantastische Geschichte. Und das ist sie tatsächlich auch.

In dieser Geschichte steht ein amerikanischer Politiker auf und erklärt, die Vereinigten Staaten seien von britischen Protestanten gegründet worden, die man in Europa wegen ihres puritanischen Glaubens verfolgt habe. Deshalb seien die USA ein angelsächsischer protestantischer Staat, zugleich natürlich ein demokratischer Staat. Deshalb würden die amerikanischen Ureinwohner, aber auch die Südamerikaner, Asiaten und Juden volle Gleichheit genießen, allerdings - da die USA eben ein angelsächsischer Nationalstaat seien - zu anderen Nationalstaaten gehören. Klingt das weit hergeholt? Vermutlich. Kein US-Politiker würde nur daran denken, ein solches Statement abzugeben, selbst wenn er in seinem tiefsten Inneren so denken sollte. In Israel kann man das, ohne dass sich jemand aufregt.

Gordon Brown käme nie auf die Idee

Vor ein paar Tagen sprach Zipi Livni als Spitzenkandidatin der Kadima-Partei für die anstehende Knessetwahl vor Gymnasiasten. Ein Auditorium, das unsere Politiker mögen, weil sie wissen, diese Zuhörer sind oft Konformisten, die jedem ergeben zuhören. Als Zipi vor diesen Schülern stand, die in ein bis zwei Jahren zur Armee einberufen werden, enthüllte sie ihre inneren Überzeugungen.

Israel sei ein jüdischer und demokratischer Staat, meinte sie. Die arabischen Bürger würden sich aller bürgerlichen Rechte erfreuen, müssten aber wissen, dies sei ein jüdischer Nationalstaat, während sie zu einer anderen Nation gehörten. Ihr Nationalstaat werde der künftige palästinensische Staat sein.

Dieses Statement hat keinen Sturm verursacht, weder an Ort und Stelle noch in den Medien, es steht nicht im Widerspruch zu den Überzeugungen der meisten Israelis. Die Allgemeinheit akzeptiert die Ansicht, Israel ist ein jüdischer Staat - seine arabischen Bürger sind höchstens eine tolerierte Minderheit.

Das Besondere an Livnis Statement war ihre Betonung des Wortes "Nationalstaat". Sie hat diesen Begriff zu ihrem Markenzeichen erkoren und wiederholt es bei jeder Gelegenheit. Das gibt ihren Statements den Heiligenschein einer durchdachten Weltanschauung.

Keiner leugnet, dass die Welt unter Nationalstaaten aufgeteilt ist. Was einem Weltparlament am nächsten kommt, wird "Vereinte Nationen" genannt und meint die "Vereinten Nationalstaaten". Die Frage bleibt nur: Was ist ein Nationalstaat? Auf alle Fälle ein relativ neues Phänomen. Noch vor einem Jahrhundert gehörten große Teile Europas zu multinationalen Dynastien, bei denen die nationale Identität der Untertanen sekundär war. Das Österreichisch-Habsburgische Reich etwa schloss mehr als ein Dutzend Nationen, das russische Zarenreich noch mehr.

Der klassische Nationalstaat war Frankreich, mit dem sich eine Nation entwickelte, die ihre Sprache und Kultur auch Völkern auferlegte, die entweder mit einem Abkommen oder unter Zwang eingemeindet wurden: die Elsässer im Osten, die Korsen im Süden, die Basken im Südwesten, die Bretonen im Norden. Der britische Nationalismus absorbierte die Schotten, Waliser und Iren. Die Völker, die von großen Nationen verschlungen wurden, akzeptierten dies in der Regel und waren stolz auf ihre neue Nationalität. Der Korse Napoleon Bonaparte war ein Franzose par excellence, der Jude Benjamin Disraeli schuf als Premierminister das britische Empire. In der Blütezeit des klassischen Nationalstaates war der so homogen wie möglich, tolerierte oder verfolgte seine Minderheiten mit dem Ziel, ihnen einen nationalen Konformismus aufzudrängen.

Es scheint so, als hätte Zipi Livni einen solchen Nationalstaat zu ihren Ideal erhoben, auch wenn der Trend weltweit längst in eine andere Richtung geht, denn die Idee von einer homogenen Nation, die sich auf einen gemeinsamen Ursprung gründet, schwindet dahin. Langsam, vielleicht zu langsam, wächst die Toleranz gegenüber "dem Fremden in unserer Mitte". Die Staatsbürgerschaft wird Einwohnern aus verschiedenen Ethnien und Religionen gewährt, wie den Türken in Deutschland oder Senegalesen in Frankreich. Ein schwieriger Prozess, der unerlässlich ist für das Überleben der europäischen Nationen, wenn deren Geburtenrate abnimmt, so dass bei einer stark alternden Bevölkerung ein ständiger Strom neuer Immigranten gebraucht. Premier Gordon Brown käme daher nicht im Traum auf die Idee, britischen Bürgern pakistanischer Herkunft zu sagen: "Euer Nationalstaat ist Pakistan".

Wenn die Palästinenser Finnen werden

Die arabischen Bürger Israels könnten mit den schwedischen Bürgern Finnlands verglichen werden, die etwa sechs Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber eine bedeutende Rolle in der Wirtschaft des Landes spielen. Alle Schilder in Finnland sind zweisprachig, und Finnland gehört allen seinen Bürgern. Ariel Sharons Berater Dov Weisglas sagte einmal: "Frieden wird es nur dann geben, wenn die Palästinenser Finnen werden. "Vielleicht wäre es akkurater zu sagen: Frieden wird es nur dann geben, sollten wir - die jüdischen Israelis - uns entschließen, selbst Finnen zu werden.

Die israelisch-arabischen Bürger in Kafr Kassem und Umm-el-Fahm nahe der Grünen Linie könnte man mit den Elsässern Frankreichs vergleichen, die dort seit unzähligen Generationen leben. Sie gehörten nach 1870/71 für eine gewisse Zeit zu Deutschland, sind aber heute so französisch wie alle Franzosen mit den gleichen Rechten und Pflichten. Würde Frankreichs Präsident Sarkozy, Sohn eines ungarischen Adligen, jemals erklären, der Nationalstaat der Elsässer sei Deutschland?

Ich weiß, all diese Beispiele sind nicht auf uns anzuwenden. Wir Juden sind etwas Besonderes: Gott hat uns auserwählt. Aber mit allem nötigen Respekt gegenüber Gott und Zipi Livni muss ich der Kadima-Kandidatin sagen: "Madame, was Sie da sagen, ist längst überholt." Seit Vladimir Jabotinsky* vor 128 Jahren in die jüdische Minderheit von Odessa hinein geboren wurde, ist viel Wasser den Dnjestr hinuntergeflossen. Und ich bin mir nicht sicher, ob er Zipis Statement unterschreiben würde. Als er schrieb, dass in unserem künftigen Staat "der Sohn des Arabers, der Sohn aus Nazareth und mein Sohn" glücklich zusammen leben würden, meinte er damit nicht, dass der jüdische Staat auch der Staat seiner arabischen Bürger sein sollte?

Ich bin davon überzeugt, dass es noch lange Nationalstaaten geben wird. Dies scheint die soziale Struktur zu sein, die Menschen heute bevorzugen. Jeder braucht offenbar nationale Identität, doch wird es sich immer weniger um einen engen, zwanghaft homogenen Nationalstaat handeln, der auf nationalistisch-religiöser sowie sprachlicher Konformität gründet. Die Zukunft gehört einem kosmopolitischen Staat, der seine Minoritäten respektiert.

(*) 1880 in Russland geborener Zionist, der zu einem der maßgebenden Vorkämpfer des Staates Israel wurde. Er starb 1940 in den USA

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