Die Fernsehzuschauer in Israel werden seit kurzem mit seltsamen Bildern konfrontiert: Armeeoffiziere erscheinen nur mit unkenntlich gemachten Gesichtern, so wie man es bei Kriminellen gewohnt ist, wenn das Gericht ihre Identifizierung verbietet. Auf Befehl des Militärzensors gilt diese Praxis für alle Offiziere, die am Gaza-Krieg beteiligt waren, nicht jedoch für die Brigadekommandeure, denn deren Gesichter sind der israelischen Öffentlichkeit in der Regel bekannt. Mit Beginn der Waffenruhe im Gaza-Streifen erließ Verteidigungsminister Barak ein Sondergesetz, das allen Offizieren und Soldaten, die dort an Kampfhandlungen beteiligt waren, die Unterstützung des Staates zusichert, sollten sie im Ausland wegen Kriegsverbrechen angeklagt werden. Dies scheint das hebräische Sprichwort zu bestätigen: „Der Hut brennt auf dem Kopf des Diebes “.
Um richtig verstanden zu werden, ich bin nicht gegen Anklagen im Ausland. Das Entscheidende ist, dass Kriegsverbrecher wie Piraten überall verurteilt werden können, wobei es unwichtig ist, wo sie gefangen genommen wurden. Diese Regel nahm auch der Staat Israel für sich in Anspruch, als er Adolf Eichmann 1960 aus Argentinien entführte und wegen seiner schändlichen Verbrechen zum Tode verurteilte, obwohl der sie außerhalb des Territoriums von Israel – sogar bevor der Staat überhaupt existierte – begangen hatte.
Israelis gehören in Israel vor Gericht
Doch als israelischer Patriot wäre es mir lieber, dass Israelis, die beschuldigt werden, Kriegsverbrechen begangen zu haben, in Israel vor Gericht gebracht würden – eine Notwendigkeit für das Land, für alle anständigen Offiziere und Soldaten und für künftige Generationen von Bürgern und Soldaten. Man muss sich dazu nicht allein auf das Völkerrecht berufen, es gibt auch israelische Gesetze gegen Kriegsverbrechen. Es genügt, den unvergesslichen Satz zu erwähnen, der von Richter Benjamin Halevy als Militärrichter im Prozess gegen Grenzpolizisten geprägt wurde, die 1956 für das Massaker in Kafr Kassem verantwortlich waren, bei dem Dutzende von Kindern, Frauen und Männern niedergemäht wurden. Sie verletzten eine Ausgangssperre, von der sie nicht einmal etwas wussten.
Dieser Richter erklärte, es gäbe selbst in Kriegszeiten Befehle, über denen „die schwarze Flagge der Illegalität wehe“, weil sie offenkundig illegal seien und jeder normale Mensch sie als illegal erkenne, ohne dass er einen Rechtsanwalt befragen müsse.
Kriegsverbrecher entehren die Armee, deren Uniform sie tragen – ob sie Generäle oder Soldaten sind. Als Frontsoldat, der dabei war, als die israelische Verteidigungsarmee offiziell gegründet wurde, schäme ich mich für sie und verlange, dass sie unehrenhaft entlassen und in Israel vor Gericht gebracht werden. Meine Liste von Verdächtigen schließt Politiker und Soldaten ebenso ein wie Rabbiner und Anwälte.
Angriffskrieg ist ein Verbrechen
Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass im Gaza-Krieg Verbrechen begangen wurden. Es ist nur die Frage, in welchem Ausmaß und von wem. Ein Beispiel: Soldaten rufen den Bewohnern eines Hauses zu, es zu verlassen. Eine Frau und ihre vier Kinder kommen heraus und winken mit weißen Taschentüchern. Es ist absolut klar, dass sie keine bewaffneten Kämpfer sind. Ein Soldat aus einem in der Nähe postierten Panzer erhebt sich aus seinem Turm, nimmt sein Gewehr und erschießt die fünf aus kurzer Distanz. Nach Zeugenaussagen scheint dies zweifellos mehr als einmal geschehen zu sein. Man denke an den Beschuss der mit Flüchtlingen belegten UN-Schule im Lager Dschebalia. Wenn es dazu juristische Untersuchungen gibt, müssen die ganz oben beginnen bei Politikern und ranghohen Offizieren, die über diesen Krieg entschieden haben. Im Nürnberger Prozess wurde festgelegt: Ein Angriffskrieg ist ein Verbrechen.
Insofern müsste eine unabhängige Untersuchung herausfinden, ob die Entscheidung, den Krieg zu beginnen, gerechtfertigt war oder ob es einen anderen Weg gegeben hätte, das Abschießen der Qassam-Raketen auf israelisches Territorium zu beenden. Zweifellos kann kein Land dulden, dass seine Städte und Dörfer von jenseits der Grenze bombardiert werden. Aber hätte dies nicht durch Verhandeln mit den Gaza-Behörden verhindert werden können? War die Blockade über anderthalb Millionen Bewohner des Gaza-Streifens nicht eine Ursache für das Abfeuern der Qassams? Kurz gesagt: Wurden Alternativen in Erwägung gezogen, bevor entschieden wurde, einen solch mörderischen Krieg zu beginnen, dessen Planung einen massiven Angriff auf die zivile Bevölkerung in Gaza einschloss?
War der Krieg ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit?
Wenn in diesem Krieg etwa 1.350 Männer, Frauen und Kinder getötet wurden, von denen der größte Teil keine Kämpfer waren; wenn etwa 5.000 Menschen verletzt wurden und die meisten von ihnen Kinder waren; wenn etwa 17.000 Häuser teilweise oder 4.000 ganz zerstört wurden; wenn es in Gaza faktisch keine Infrastruktur mehr gibt, dann ist das alles nicht zufällig geschehen – es muss Teil der militärischen Planung gewesen sein. Ein unabhängiger Gerichtshof wird demnach zu entscheiden haben, ob dieses Vorgehen nationale Gesetze und internationales Recht verletzt hat oder nicht – ob dieser Krieg von Anfang an ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit war.
Bekanntlich bekommt das Militär in einem demokratischen Staat die Befehle von der politischen Führung, aber dies kann nicht „offensichtlich“ illegale Befehle einschließen, über denen die schwarze Flagge der Illegalität weht. Seit Nürnberg gibt es die Entschuldigung „Ich habe nur Befehle ausgeführt“ nicht mehr. Darum muss die persönliche Verantwortung aller Beteiligten – vom Stabschef über den Frontkommandeur bis zum letzten Soldaten – geprüft werden. Aus Gesprächen mit Soldaten muss man schließen, dass viele glaubten, es sei ihre Mission gewesen, „so viele Araber wie möglich umzubringen“, also keinen Unterschied zwischen Kämpfern und Nichtkämpfern zu machen – ein in jeder Hinsicht illegaler Befehl, ob er ausdrücklich gegeben wurde oder nur mit einem Augenzwinkern. Die Soldaten verstanden dies als „den Geist des Kommandeurs“. Unter denen, die nach all den Geschehnissen in Gaza verdächtigt werden, Verantwortung für Kriegsverbrechen zu tragen, haben Rabbiner einen „Ehrenplatz“.
Schatten von Kriegsverbrechen gab es von Anfang an
Wenn man von „Rabbinern“ spricht, denkt man gewöhnlich an alte Männer mit langen, weißen Bärten und großen Hüten, die ehrwürdige Weisheiten von sich geben. Doch die Rabbiner, die inzwischen Soldaten unserer Armee seelisch begleiten, sind eine andere Spezies. Während der vergangenen Jahrzehnte hat das vom Staat finanzierte religiöse Bildungssystem Rabbiner produziert, die eher mittelalterlichen Priestern ähneln als jüdischen Weisen aus Polen, Marokko oder sonst woher. Sie indoktrinieren ihre Schüler mit einem gewalttätigen und ethnozentrischen Stammeskult. Die ganze Weltgeschichte sei nichts anderes als die endlose Geschichte jüdischen Opfertums, lautet ihre Botschaft. Sie verbreiten eine Religion, der andere Völker gleichgültig sind – eine Religion ohne Mitleid für all jene, die nicht als jüdisch gelten.
Rabbiner, die sich derartigen Bekenntnissen verschreiben, sind systematisch in der israelische Armee implementiert worden, das heißt, Kippa tragende Offiziere haben längst die Kibbutzniks ersetzt, die noch bis vor Jahren beim Militär vorherrschend waren. Herausragendes Beispiel für diesen Wandel ist der Armee-Chef-Rabbiner, Oberst Avishai Ronski, der erklärt, es sei „sein Job“, den Kampfgeist der Soldaten zu stärken. Er gehört zur äußersten Rechten und ist nicht weit entfernt von den Auffassungen des verstorbenen Rabbiners Meir Kahane, dessen Partei in Israel wegen ihrer faschistischen Ideologie verboten wurde. Unter der Schirmherrschaft Ronskis wurden religiöse Broschüren ultrarechter Rabbiner an die Soldaten verteilt, in denen behauptet wird, die jüdische Religion verbiete es, „auch nur einen Millimeter von Eretz Israel aufzugeben“. Die Palästinenser seien wie die biblischen Philister ein fremdes Volk, mit denen jeder Kompromiss eine Todsünde sei. Wer die Palästinenser barmherzig behandele, der mache sich einer „entsetzlichen Unmoral“ schuldig. Wenn solches Material an religiöse Soldaten verteilt wird, die in einen Krieg gehen, lässt sich unschwer erklären, warum die Dinge so geschehen sind, wie sie geschahen.
Die Planer dieses Krieges wussten sehr genau, dass von Anfang an der Schatten von Kriegsverbrechen über der Operation Gegossenes Blei lag. Darum wurden Juristen – offiziell: „Rechtsberater der Regierung“ – an der Planung beteiligt. Zwischenzeitlich teilte der Armeechefanwalt, Oberst Avichai Mandelblit, mit, dass seine Offiziere während des gesamten Krieges sämtliche Kommandeure bis hin zum Divisionschef begleitet hätten. Das heißt, jeder Anwalt, der bei der Ausgabe der entsprechenden Befehle assistiert hat, ist verantwortlich für die Folgen, es sei denn, er kann beweisen, dagegen votiert zu haben.
Chefanwalt Avichai Mandelblit, dessen Aufgabe es ist, der Armee professionellen Rat zu geben, versucht nun, die Kriegführung in Gaza zu rechtfertigen, indem er sagt: Man habe im Kampf gegen „einen hemmungslosen Feind“ gestanden, der den „Tod liebe“ und Schutz „hinter dem Rücken von Frauen und Kindern finde“. Solcherart Sprache ist vielleicht für einen kriegstrunkenen Einsatzkommandeur entschuldbar, doch unannehmbar, wird sie vom Chef der Armeejustiz gepflegt. Wir müssen alle juristischen Möglichkeiten in Israel nutzen und auf einer Untersuchung sowie einer Anklage der Täter bestehen. Wir müssen dies fordern, selbst wenn die Chance, dass etwas geschieht, gering bleibt. Wenn diese Bemühungen misslingen, wird niemand in Israel das moralische Recht haben, sich gegen Verfahren im Ausland zu wehren – weder vor einem Internationalen Gerichtshof noch vor Richtern jener Nationen, die Menschen- und Völkerrechte achten. Bis dies geschieht, weht die schwarze Flagge über uns.
Uri Avnery hat sich bereits mehrfach im Freitag mit der Kriegführung beschäftigt, zuletzt kurz nach Beginn des Gaza-Krieges. Eine Behandlung möglicher Kriegsverbrechen wird durch den Umstand beeinträchtigt, das Israel so wie auch die USA das über den Weltgerichtshof nicht unterzeichnet hat.israelischenRömische Statut
Die der israelischen Armee zur Last gelegten Kriegsverbrechen in Gaza könnten letzten Endes eines innenpolitische Debatte in Israel auslösen, wie sie sich bereits 1982 durch die Massaker in
und Chatila ergeben hatte.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.