In den Schuhen des Vaters

Netanjahu Israels Premierminister hat viele Gesichter. Er gilt als Opportunist und Taktierer, aber ebenso als prinzipienfest und willensstark, wenn es um Groß-Israel geht

Wer ist der wirkliche Netanjahu? Bibi, der Schwächling, ohne Rückgrat, der jedem Druck nachgibt, woher der auch kommt, ob aus den USA oder seiner Koalition? Oder Bibi, der trickreiche Likud-Chef, der fürchtet, dass sein Außenminister ihn als Führer des ganzen rechten Flügels ersetzt? Oder Benjamin Netanjahu, ein Mann der Prinzipien, entschlossen, um jeden Preis die Gründung des Staates Palästina zu verhüten, und deshalb um keine List verlegen, wirkliche Verhandlungen zu verhindern? Wer der authentische Netanjahu ist – steh auf! Sehe ich, wie alle drei sich erheben?

Lieberman austricksen

Der erste Netanjahu ist der Sichtbare. Wie ein Blatt im Wind. Er kennt ein einziges Ziel: an der Macht bleiben! Dieser Netanjahu lädt dazu ein, unter Druck gesetzt zu werden. Barack Obama setzte ihn unter Druck, also stimmte Netanjahu für ein Einfrieren des Siedlungsbaus. Um eine Krise mit den Siedlern zu vermeiden, versprach er denen, dass es nach den vereinbarten zehn Monaten einen regelrechten Bauboom geben werde. Genau so kam es – trotz des intensiven Druckes von Obama, der das Moratorium um zwei Monate verlängern wollte – bis zu den Kongresswahlen am 2. November. Jetzt beseelt Netanjahu die Hoffnung, das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) werde ihm helfen, Obama bei diesem Votum eine vernichtende Niederlage zu bereiten, auf dass man sich die Hände reiben kann, auch diesen Streit um die Siedlungen wunderbar überlebt zu haben. Ist das der echte Netanjahu? Sicherlich.

Aber der zweite ist nicht weniger real – der trickreiche, der versucht, den trickreichen Lieberman auszutricksen. Letzterer setzte jüngst die UN-Vollversammlung in Erstaunen, als er dort nicht die Politik seines Landes verteidigte, sondern seine eigene Regierung heftig attackierte. Es ging um die direkten Verhandlungen mit den Palästinensern, die in einem Jahr zu einem endgültigen Friedensvertrag führen sollen. Unsinn, sagte Israels Außenminister. Es gibt keine Chance. Weder in einem Jahr noch in 100 Jahren. Nötig ist ein Interims-Abkommen. Mit anderen Worten: die Fortsetzung der Besatzung ohne Zeitgrenzen.

Warum dieser Auftritt vor der UNO? Lieberman wandte sich nicht an die Delegierten in New York, sondern an die israelische Öffentlichkeit. Er forderte Netanjahu heraus: Entweder entlässt du mich oder du gibst vor, die Spucke in deinem Gesicht sind Regentropfen. Aber Netanjahu reagierte nicht, außer mit schwachem Statement: Avidgor Lieberman vertrete nur persönliche Ansichten. Warum so vorsichtig? Klar, wenn Netanjahu Liebermans Partei aus der Regierung stößt und mit Zipi Livnis Kadima koaliert, würde Lieberman mit Netanjahu das tun, was der einst mit Yitzhak Rabin getan hat: Ihn einen Verräter nennen, der das Vaterland verkauft. Seine Anhänger würden mit Postern von Netanjahu in SS-Uniform herumlaufen. Lieberman selbst würde die Flagge der Rechten hissen, den Likud spalten, Israels Rechte in Besitz nehmen und versuchen, Ministerpräsident zu werden. Netanjahu begreift das vollkommen. Deshalb hält er sich zurück. Vielleicht ist er auch gar nicht so sehr gegen den Plan, den Lieberman vor der UNO kundtat. Der Außenminister beschrieb eine Lösung, wonach Israel der „Nationalstaat-des-jüdischen-Volkes“ ohne Araber sein wird. Das heißt, er will von Israel die arabischen Kommunen entlang der Ostgrenze abtrennen, von Umm-al-Fahm im Norden bis Kafr Kassem im Süden. Dieses Gebiet soll den Palästinensern zugeschlagen werden – dafür würde Israel die Siedlungen in der Westbank annektieren. Könnte es sein, dass Netanjahu die UN-Rede seines Außenministers nicht verurteilt, weil er insgeheim dessen Ansichten teilt?

Auf jeden Fall verkündete der Premier vergangene Woche, er adoptiere Liebermans Baby, nämlich die Forderung, dass Nicht-Juden, die sich um die israelische Staatsbürgerschaft bewerben, einen Treue-Eid schwören müssten, nicht nur gegenüber dem Staat Israel, sondern gegenüber „Israel als einem jüdischen und demokratischen Staat“. Ein unsinniger Zusatz, nur ausgedacht, um israelische Araber zu provozieren. Man könnte ebenso Einbürgerungskandidaten der USA auf die „Vereinigten Staaten als einer weißen angelsächsischen, christlichen und demokratischen Nation“ einschwören.

Das Urteil von Ben-Zion

Bei alldem ist es nicht unmöglich, dass ein dritter Netanjahu existiert, der die beiden anderen dominiert und an ein Groß-Israel glaubt, weil er dieser Ideologie stets treu blieb. Manche glauben gar, Benjamin Netanjahu handele im totalen Gehorsam gegenüber seinem alten Vater. Ben-Zion Netanjahu ist jetzt 100 Jahre alt und Professor für Geschichte. Er wurde in Warschau geboren, kam 1920 nach Palästina und wechselte seinen Namen: aus Mileikowsky wurde Netanjahu („Gott hat gegeben“). Er gehörte immer zum extrem rechten Rand, verbrachte einen Teil seines Lebens in den USA, wo auch seine drei Söhne aufwuchsen. Er behauptet bis heute, wegen seiner Ansichten sei ihm eine Professur an der Hebräischen Universität verwehrt worden. Als der Sohn in seiner ersten Amtszeit als Premier (1996-1999) Teile Hebrons den Palästinensern übergab, tadelte ihn sein Vater und stellte öffentlich fest, er sei nicht als Regierungschefs geeignet, höchstens als Außenminister. Und der Sohn tat danach alles, um den Auffassungen des Vaters gerecht zu werden. Wie der Journalist Gideon Samet schreibt, würde er es nicht wagen, Ben-Zion Netanjahu gegenüber zu treten und zu sagen, er habe Teile von Eretz Israel weggegeben. Wird also nach dem wirklichen Netanjahu gefragt, könnten alle drei aufstehen. Aber der dritte ist wohl der authentische.

Uri Avnery kennt Netanjahu nicht zuletzt aus seiner Zeit als Knesset-Abgeordneter

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