Haben wir Israelis den Gaza-Krieg vor einem Jahr gewonnen? Innerhalb des auf Konsens bedachten Mainstreams in Israel ist die Antwort klar: Sicher haben wir gewonnen. Es kommen keine Kassam-Raketen mehr.
Eine einfache, um nicht zu sagen, primitive Antwort. Aber so sieht es aus für den oberflächlichen Betrachter. Es gab die Kassam-Raketen – dann führten wir Krieg, und danach gab es keine Geschosse mehr. Die Grenzstadt Sderoth floriert, die Bewohner von Beer Sheva gehen ins Theater. Alles andere ist ein Thema für Philosophieprofessoren. Aber jeder, der die Folgen dieses Krieges verstehen will, muss ein paar schwierige Fragen stellen. War es wirklich das Ziel der Intervention, die Kassam-Raketen zu stoppen? Hätte dies nicht auch auf andere Weise erreicht werden können? Und wenn es andere Ziele dieses Feldzuges gab, welche waren das? Ist die Bilanz ein Jahr danach und gemessen an den Interessen Israels positiv oder negativ ?
Dokumente können in die Irre führen. Wenn der französische Meisterdiplomat Talleyrand-Périgord Recht hatte, als er sagte, Worte wurden erfunden, um Gedanken zu verbergen, dann trifft dies für Dokumente noch mehr zu. Dokumente verfälschen Fakten, verbergen oder erfinden sie – je nach den Interessen des Schreibers. Sie enthüllen etwas, um den Rest zu verbergen. Jeder, der einmal mit öffentlichen Angelegenheiten zu tun hatte, kennt das. Deshalb lasst uns die Protokolle ignorieren. Welches waren die wirklichen Ziele derjenigen in Israel, die den Gaza-Krieg begannen? Ich denke, es waren die folgenden – hier der Reihe nach in abnehmender Bedeutung aufgezählt: Erstens, man wollte das Regime im Gazastreifen beseitigen, indem man den Bewohnern das Leben so sehr zur Hölle machte, dass sie gegen Hamas aufstanden. Zweitens, der israelischen Regierung, besonders der Armee, sollte Selbstachtung zurückgegeben werden, die 2006 beim Libanon-Feldzug sehr gelitten hatte. Drittens, es sollte der Beschuss mit Kassam-Raketen gestoppt werden. Viertens, man wollte den Soldaten Gilad Shalit befreien. Prüfen wir die Ergebnisse, eines nach dem anderen.
Wer hat gewonnen?
Mitte Dezember versammelten sich Hunderttausende Palästinenser in Gaza-City, um Hamas zu unterstützen. Nach den Fotos zu urteilen, waren es 200.000 bis 400.000. Wenn man berücksichtigt, dass es dort etwa 1,5 Millionen Einwohner gibt und die meisten von ihnen Kinder sind, dann war dies eindrucksvoll angesichts des Elends, das die israelische Blockade seit Jahren verursacht. Wer auch immer glaubte, Druck auf die Menschen im Gazastreifen werde einen Aufstand gegen Hamas auslösen, hat sich getäuscht. Geschichtskenner dürfte das kaum überraschen. Wird ein Volk von einem äußeren Feind angegriffen, schließt es sich hinter seinen Führern zusammen – egal, wer sie sind. Schade, dass unsere Politiker und Generäle keine Bücher lesen.
Unsere Kommentatoren porträtieren die Bewohner von Gaza-City derzeit so, als schauten sie neidisch auf die florierenden, vollen Läden in Ramallah. Diese Autoren leiten aus Meinungsumfragen die Hoffnung ab, die Popularität von Hamas in der Westbank nehme ab. Wenn das so ist, warum fürchtet sich dann die Fatah, Wahlen abzuhalten? Sie hat fast alle Hamas-Aktivisten aus dem Westjordanland ins Gefängnis geworfen. Wer sollte ihr Paroli bieten?
Man hat den Eindruck, als ob eine Mehrheit im Gazastreifen mit der dortigen Hamas-Regierung zufrieden ist oder diese zumindest toleriert. Trotz des elenden Lebens mögen sie stolz auf ihre Standhaftigkeit sein. Es herrscht Ordnung auf den Straßen, die Zahl der Verbrechen sinkt. Hamas versucht vorsichtig, im Alltagsleben eine religiöse Agenda zu stiften. Und es scheint so, als störe das die Öffentlichkeit nicht. Das Hauptziel der Operation Gegossenes Blei jedenfalls wurde verfehlt – die Hamas regiert weiter .
Das zweite Ziel hingegen ist erreicht. Die Olmert-Regierung, die während des Libanonkrieges im Sommer 2006 viel öffentliches Vertrauen verlor, hat das mit dem Gaza-Krieg korrigiert. Das hat zwar Olmert selbst nicht geholfen – er musste zurücktreten, weil er eine Wolke von Korruptionsaffären um seinen Kopf schweben hatte –, aber die Armee hat ihr Selbstvertrauen wieder erlangt. Sie hat bewiesen, dass die Defizite des Libanonkrieges überwunden sind. Unsere Öffentlichkeit glaubt, die Armee hat im Gazastreifen gut funktioniert. Die Tatsache, dass nur sechs israelische Soldaten durch feindliches Feuer getötet wurden, aber mehr als 1.400 Menschen auf der anderen Seite starben, hat sie in diesem Glauben bestärkt. Nur wenige Israelis werden von moralischen Skrupeln geplagt.
Haben unsere Streitkräfte damit auch militärisch gewonnen? In einem Konflikt zwischen einer regulären Armee und Freischärlern ist es schwierig zu entscheiden, wer gesiegt hat. Bei klassischen Schlachten wird angenommen, der Sieg gehört denen, die danach noch auf dem Schlachtfeld sind. Bei einem asymmetrischen Konflikt lässt sich das nicht feststellen, weil es dieses Schlachtfeld nicht gibt. Auf jeden Fall wollte die israelische Armee nicht im Gazastreifen bleiben – sie war daran interessiert, genau das zu vermeiden.
Einige behaupten, Hamas habe den Krieg gewonnen. Wer als mäßig bewaffnete Guerilla ganze drei Wochen gegen eine der stärksten Armeen der Welt durchhalte, habe gesiegt. Da steckt eine Menge Wahrheit drin. Andererseits wissen jetzt alle palästinensischen Fraktionen, dass die israelische Armee bereit ist, bei jeder Konfrontation rücksichtslos zu töten und zu zerstören. Seit Anfang 2009 müssen Hamas- wie auch Hisbollahführer zweimal nachdenken, bevor sie Israel provozieren. So sind die Kassam-Raketen fast vollständig gestoppt worden, denn Hamas hat seine Autorität auch bei den extremen Fraktionen im eigenen Lager durchgesetzt, die offenkundig weiter machen wollten. Zweifellos hat die Abschreckungskraft der israelischen Armee dazu beigetragen, doch achtet die inzwischen darauf, Operationen (gezielte Tötungen etwa) zu vermeiden, aus denen sich Eskalationen ergeben. Wenigstens beruht die Abschreckung im Gazastreifen jetzt auf Gegenseitigkeit.
Es könnte gefragt werden, ob man die Kassamraketen auch ohne Krieg hätte stoppen können? Wenn die israelische Regierung die Hamas-Regierung in Gaza anerkannt, geschäftliche Beziehungen mit ihr aufgebaut und keine Blockade verhängt hätte, wären keine Raketen geflogen. Ich bin davon überzeugt.
Die Befreiung Gilad Shalits – ein sekundäres, aber wichtiges Ziel – ist noch nicht erreicht. Freikommen kann der junge Soldat nur durch einen Gefangenenaustausch, doch würde das zu sehr nach einem Sieg von Hamas aussehen.
Zieht man aus alldem ein Resümee, liegt der Schluss nahe, dass der Gaza-Krieg vor einem Jahr unentschieden ausging, wäre da nicht der südafrikanische Jurist Richard Goldstone. Mit seinem Untersuchungsbericht hat er Israels Ruf in der Welt einen fatalen Schlag versetzt. Ist das bedeutsam? Staatsgründer David Ben Gurion sagte einmal: „Es ist unwichtig, was die Goyim sagen, wichtig ist, was die Juden tun.“ Der Amerikaner Thomas Jefferson meinte dagegen, keine Nation könne es sich leisten, die Meinung der Menschheit zu missachten. Er hatte Recht. „Was die Goyim sagen“, hat eine immense Folgen. Der internationale Ruf des israelischen Staates ist ein lebenswichtiger Faktor seiner nationalen Sicherheit.
Der Gaza-Krieg – von der Entscheidung, die Armee in ein dicht bewohntes Gebiet zu schicken, bis zum Gebrauch von weißer Phosphor-Munition – hat einen dunklen Schatten auf Israel geworfen und der Goldstone-Report einen schrecklichen Eindruck hinterlassen. Er beeinflusst Regierungen und Medien weltweit und in letzter Konsequenz Tausende von großen und kleinen Entscheidungen, die Israel betreffen.
Nur eine Frage der Zeit
Fast all unsere Journalisten, ja selbst der letzte TV-Talkshowmeister, plappern wie Papageien nach, der Goldstone-Bericht sei „einseitig“, „niederträchtig“ und „verlogen“. Aber die Leute rund um die Welt wissen, dass es sich um ein Dokument handelt, wie es ehrlicher kaum sein könnte, nachdem die Regierung Netanjahu entschieden hat, die Untersuchung zu boykottieren. Der Schaden wächst von Tag zu Tag. Einiges ist nicht wieder gut zu machen – der Schaden, den wir uns durch den Krieg selbst zufügten, ist größer als jeder Vorteil. Einige Politiker bei uns akzeptieren diese Schlussfolgerung schweigend. Aber es fehlt nicht an Stimmen – in der Führung und auf der Straße – die offen davon reden, eine Wiederholung der Aktion Gegossenes Blei sei nur eine Frage der Zeit.
Eine Redewendung, die man Bismarck zuschreibt, besagt: „Toren lernen aus der eigenen Erfahrung – kluge Leute aus der Erfahrung anderer.“ Zu welchen Leuten gehören wir?
Übersetzung: Ellen Rohlfs
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