Biologie des Unbewussten

Synaptische Spuren Psychoanalyse und Hirnforschung scheinen feindliche Disziplinen zu sein - doch die neurologische Fundierung der Psychologie, die Freud einst wünschte, findet neue Anhänger

"Neuro-Psychoanalyse" - gegensätzlicher könnte das junge Paar nicht sein. Auf der einen Seite die Neurowissenschaften, unter deren Vertretern manche dazu neigen, "den" Menschen auf eine Maschine zu reduzieren, die von chemischen Prozessen im Gehirn gesteuert wird. Auf der anderen Seite die Psychoanalyse, die - im Idealfall - das entstehende "Ich" in seinen je konflikthaften Auseinandersetzungen mit den Eltern, dem Milieu und dem wiederum vom Außen mitgeprägten Unbewussten zu verstehen sucht. Da liegt der Verdacht nahe, dass dieses Paar eine bloße Zweckgemeinschaft bildet. Die Hirnforschenden sehen in der Psychoanalyse ein Instrument, mit dem sie die unerschöpfliche und bildhafte Datenmenge, die sich mit immer besseren Apparaten vom menschlichen Hirn gewinnen lässt, einigermaßen sinnvoll bewältigen können. Die Psychoanalytiker ihrerseits sind nun in der Lage, ihre von der universitären Psychologie belächelte Lehre nun wissenschaftlich "beweisen" zu können. Hatte nicht Freud selbst, der ursprünglich Neurologe war, seinen legendären Entwurf einer Psychologie (1895) mit dem Satz eröffnet: "Es ist die Absicht, eine naturwissenschaftliche Psychologie zu liefern, das heißt psychische Vorgänge darzustellen als quantitativ bestimmte Zustände aufzeigbarer materieller Teile und sie damit anschaulich und widerspruchsfrei zu machen"? Und hielt nicht auch Freud sein Leben lang am Wunsch fest, eine naturwissenschaftlich fundierte Psychologie zu begründen, obschon er seinen positivistischen Anfängen bald den Rücken kehrte und sich dem Studium des rein Psychischen zuwandte?

Verdeckte Strategie

Doch der Fall liegt vertrackter, wie immer, wenn die Psychoanalyse mit im Spiel ist. Diesen Eindruck jedenfalls erweckt Die Individualität des Gehirns von François Ansermet und Pierre Magistretti. Was sich als notwendige und schwierige, aber nicht unmögliche Verbindung zwischen "Neurobiologie und Psychoanalyse" ausgibt, ist in Tat und Wahrheit eine vehemente Verteidigung des Einen vor dem Anderen. Die beiden Autoren - Ansermet ist Psychoanalytiker und Kinderpsychiater an der Universität Lausanne, Magistretti Neurowissenschaftler an der EPF Lausanne - geben einen fundierten und äußerst detaillierten Überblick der jüngsten Fortschritte der Neurobiologie. Im menschlichen Gehirn tauschen über hundert Milliarden Neuronen mit einer Geschwindigkeit von etwa 300 Stundenkilometern miteinander Informationen aus, wobei manche Neuronen Fortsätze von mehr als einem Meter Länge haben. Der Informationsaustausch geschieht über die so genannten Synapsen: Jedes Neuron bildet mit anderen insgesamt zirka 10.000 Synapsen, was total etwa eine - je nur einige Millionstel Millimeter breite - Billiarde Kontaktstellen ergibt, an denen elektrisch und chemisch kommuniziert wird. Die Art und Weise nun, wie die Informationen weitergegeben werden, hängt entscheidend von der Wahrnehmung des Individuums ab. Das Gehirn funktioniert also nicht - wie die Hirnforschung bis vor kurzem annahm - wie eine Maschine oder ein Computer, das seine TrägerInnen steuert, sondern es verändert sich je nachdem, wie diese ihre Umwelt wahrnehmen: Die Wahrnehmung des Individuums hinterlässt Spuren im Hirn. Die neuronale Plastizität entspricht der so genannten Epigenetik: Auch biologisch gesehen ist die Vererbung mehr als die Summe der Gene. "Die Plastizität", halten die Autoren fest, "befreit den Menschen vom genetischen Determinismus."

Rätselhafter Prozess

Wie nun schlägt sich die gelebte Erfahrung im Hirn nieder? Erstens hinterlässt sie im Nervensystem synaptische Spuren. Und zweitens - und dies ist der entscheidende Punkt - schaffen die entstandenen Neuronen ihrerseits untereinander neue Verbindungen. Die Erfahrung bringt also neue Neuronen hervor. Diese innere unbewusste Wirklichkeit, die das Bewusstsein moduliert, funktioniert unabhängig von den Reizen und der Erfahrung der Außenwelt. Überraschenderweise passiert im Hirn neurobiologisch das, was sich der frühe Freud unter "Erinnerungsspuren" und "Wahrnehmungszeichen" vorstellte. Mehr noch: Was Freud "Unbewusstes" und "Phantasievorstellungen" nannte, ist eine neurobiologische Realität. Eine zentrale Rolle spielt dabei die im Hirnstamm gelegene Amygdala, welche, wie ihr Name sagt, Form und Größe einer Mandel hat, im Hirnstamm liegt und zum limbischen System gehört. Die Informationen, die sie dem bewussten Gedächtnis liefert, beruhen auf den "Phantasievorstellungen"; damit beeinflusst die Amygdala die Eigenart der Information, die in das Bewusstsein gelangt, und die Wahrnehmung der Wirklichkeit selbst. "Das Eingreifen der unbewussten inneren Wirklichkeit bei der Festlegung der endgültigen Handlung findet hier eine Bestätigung."

Soziales Unbewusstes

An diesem Punkt jedoch enden die Gemeinsamkeiten von Psychoanalyse und Naturwissenschaften. Denn mehr als die Konvergenzen fällt die Eigenständigkeit und Unhintergehbarkeit des Unbewussten ins Auge, dessen neurobiologische Funktionsweise letztlich ein "rätselhafter Prozess" bleibt. Das Unbewusste darf nicht mit der Amygdala in eins gesetzt oder dort lokalisiert werden. Und das Unbewusste ist mehr als die verschiedenen Gedächtnisformen, welche die Neuropsychologie postuliert. Seine Erinnerungsspuren sind nicht auf eine bestimmte Gehirnregion zurückzuführen: "Das Unbewusste ist kein Gedächtnis, sondern ein System von Erinnerungsspuren, die kein Spiegelbild der äußeren Wirklichkeit sind, die sie hervorgebracht hat".

Auch die Verhaltenstherapie hat auf diese Ebene der Phantasievorstellungen keinen Zugang. Sie kann, neurobiologisch gesprochen, nur auf der Ebene der primären synaptischen Spuren wirksam werden, die durch einfache äußere Reize entstehen, nicht aber für die von der äußeren Wirklichkeit losgelösten Spuren des Inneren. Alle Ansätze, die in gewissen Gehirnarealen Zentren des Unbewussten und Triebe oder inhaltlich bestimmte Gedanken und Gefühle wie Neid, Angst oder Zutrauen lokalisieren wollen, sind letztlich reduktionistisch und deterministisch. Jeder hat sein eigenes Gehirn, aber jede hat auch ihre eigene unbewusste Wirklichkeit, welche die gängigen neuropsychologischen Tests und Experimente nicht erfassen. Allerdings wäre die "Individualität des Gehirns" weiterzuspinnen: Die Verteidigung eines Unbewussten, das nicht deterministisch gedacht wird, müsste in den Nachweis seiner sozialen Verstrickung führen. Das Unbewusste mag sehr wohl individuell sein, doch gerade die innerste Wirklichkeit ist durch und durch auch eine gesellschaftliche Realität.

Während Ansermet und Magistretti also die Eigenart des Unbewussten gegen eine kurzsichtige Hirnforschung verteidigen, möchten Karen Kaplan-Solms und Mark Solms die Psychoanalyse auf den neusten Stand der Neurowissenschaften hieven. In ihrem Buch Neuro-Psychoanalyse berufen auch sie sich hauptsächlich auf den frühen Freud, auch sie grenzen sich vehement von einer Neuropsychologie ab, welche die menschliche Subjektivität ausblende, und auch sie wenden sich gegen jeglichen Lokalisationismus: "Niemand wird jemals einen Gedanken in einem Stück Gewebe finden." Das britische Paar stieß bei seiner Arbeit mit Patienten und Patientinnen, die im frontal-limbischen Hirnbereich - also in dem für "Selbstbewusstheit und Selbstkontrolle" zuständigen Areal - verletzt waren, auf psychische Vorgänge, die es einleuchtend mit unbewussten Wünschen erklären konnte. Die PatientInnen, die oft Gedächtnisstörungen hatten, die ihnen nicht bewusst waren, füllten sie mit scheinbar wirren Geschichten. Kaplan-Solms und ihr Mann - sie ist ursprünglich Neuropsychologin, er Neurologe, Psychiater und Mitbegründer der seit 2000 bestehenden "International Neuro-Psychoanalysis Society" - fanden heraus, dass diese Geschichten nicht zufällige Erfindungen waren, sondern Wunschvorstellungen, die sich mit der Biografie der Patienten erklären ließen. Weil die für das Bewusstsein zuständigen Gehirnareale ausgeschaltet waren, kamen dafür die für das Unbewusste zuständigen Regionen um so ungehemmter zum Einsatz. Die Patienten legten sich die Realität so zurecht, wie sie diese sich wünschten. Damit ist für das Paar aufgrund der Analysen von hirngeschädigten Patienten nicht nur die Existenz des Unbewussten bewiesen, sondern es sind - endlich - auch die Grundlagen für die biologische Kenntnis des psychischen Apparats geschaffen, dessen Instanzen - besonders "Ich" und "Es" - im Gehirn verteilt sind. Allerdings ist Vorsicht angebracht: "Wir möchten betonen, dass das neurologische Modell, welches wir beschreiben, in keiner Weise ›realer‹ ist als das uns vertraute psychische Modell. Wir beschreiben lediglich denselben Vorgang aus verschiedenen Blickwinkeln - das heißt, wir beschreiben den psychischen Apparat so, wie er sich uns als Teil der materiellen Realität präsentiert."

Bei aller Nuancierung irritiert jedoch ein szientifischer Ton, der Freud - und dem wiederentdeckten sowjetischen Neurologen Alexander Lurija - insoweit recht gibt, wie sich deren Ansichten mit dem neusten Stand der neurowissenschaftlichen Forschung decken (was immer mehr der Fall zu sein scheint), sowie eine therapeutische Haltung, die ausgesprochen pragmatisch und rationalistisch ist. Die Aufgabe des Psychoanalytikers ist es, die unbewussten Wurzeln der neurotischen Symptome freizulegen und sie dem rationalen Urteil des Ich zugänglich zu machen, damit diese verschwinden. Zu hoffen bleibt nicht nur, dass der neue Ansatz der Neuro-Psychoanalyse den Vertretern und Vertreterinnen einer vulgär gefassten Hirnforschung ein differenziertes Verständnis menschlicher Lebensgeschichten sowie des Zusammenhangs zwischen Psyche und Hirn nahe bringt. Zu hoffen bleibt auch, dass die neurologisch ausgerichtete Psychiatrie im Wissen darum, dass das Hirn viel komplexer funktioniert als bisher angenommen, Medikamente zurückhaltender einsetzt.

Zum Weiterlesen:


François Ansermet, Pierre Magistretti: Die Individualität des Gehirns. Neurobiologie und Psychoanalyse. Frankfurt am Main 2005; Karen Kaplan-Solms, Mark Solms: Neuro-Psychoanalyse. Eine Einführung mit Fallstudien. Stuttgart 2003


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