Die grauenvollen Ereignisse der vergangenen Wochen liegen wie Blei in der Luft. Im Schatten starker Militärpräsenz, die noch für einige Zeit bestehen bleiben wird, versuchen die Menschen in Gujarat, wieder ihren Alltag zu finden. Auf der Landstraße am Fort von Ahmedabad dümpelt ein Kamelwagen dahin, beladen mit einem verkohlten Autowrack. Ein kleiner Junge bietet Luftballons zum Verkauf, die ersten Lebensmittelgeschäfte haben ihre Rollladen hochgeschoben, ein Grüppchen Kinder wartet in der leeren Volksschule auf Mitschüler.
Für manche gibt es kein Zurück. In einem außerhalb der Stadt liegenden Militärcamp drängen sich Hunderte von muslimischen Familien auf engstem Raum. Obwohl es kaum Trinkwasser und Nahrungsmittel gibt, können sie sich nicht recht entschließen, den Schutz des Lagers aufzugeben. Die Angst sitzt zu tief. Und wohin sollten sie auch gehen, ihre Häuser sind verbrannt. Die meisten von ihnen sind Bewohner der Naroda-Siedlung, die von einem 2.000 Mann starken Mob angegriffen und bei versperrten Ausgängen in eine brennende Todesfalle verwandelt wurde. 200 Menschen starben in den Flammen, fast 2.000 wurden verletzt. Unter den Überlebenden ist die von Brandwunden entstellte 16-jährige Afsana, die nicht mehr spricht, seit sie zusehen musste, wie ihre drei jüngeren Geschwister von einer johlenden Meute mit Benzin übergossen wurden und bei lebendigem Leib verbrannten. Was in Gujarat geschah, ließ in ganz Indien die Horrorbilder wieder aufleben, die das Jahr 1947 mit der blutigen Teilung von Pakistan tief ins Gedächtnis gegraben hatte.
Es begann mit dem wütenden Mob, der am sonnigen Morgen des 27. Februar bei Gohdra einen Zug auf offener Strecke anhielt, um seine Passagiere mit Messern und Eisenstangen zu massakrieren und in den Waggons zu töten. Bis heute weiß niemand ganz genau, wie sich die mehr als 1.000 Männer so schnell zu koordiniertem Angriff formieren konnten und wer ihre Anführer waren. Es gibt viele gute Gründe zu der Annahme, dass es sich um eine wohl geplante, gezielte Provokation handelte. Als einer der Drahtzieher wurde der Chef der örtlichen Kongresspartei verhaftet. Es wurden auch Beziehungen zum pakistanischen Geheimdienst nachgewiesen. Die Fakten bleiben jedoch vom Nebel parteilicher Interessen und Spekulationen umhüllt.
Aber wer ihn auch immer ausgelöst hat: der Flächenbrand von Hass und Gewalt, der über die Städte und Dörfer Gujarats dahinfegt, hätte zu keinem bedeutungsvolleren und gefährlicheren Zeitpunkt gezündet werden können - die Regierung ist geschwächt, die Hindu-Fundamentalisten sind auf dem Vormarsch, die Ayodhya-Bombe tickt weiter. Jeder Funken lokaler Gewalt kann ganz Indien - und durch eine Kettenreaktion ganz Südostasien in Brand setzen.
Zerstörung der Moschee
Während sich die Bharatya Janata Partei (BJP) Ende Februar noch von den niederschmetternden Ergebnissen der Wahl erholte, die sie in Uttar Pradesh und drei anderen Staaten um die Regierung brachte, sah sie sich unversehens der schwersten Krise ihrer 30-monatigen Amtszeit in Delhi gegenüber. Vom Wahldebakel angestachelt, gingen die Hindu-Extremisten innerhalb und außerhalb der BJP in die Offensive. Der Welt-Hindu-Rat (VHP) übernahm die Führung und forderte mit lange nicht gesehener Vehemenz den Bau des Mandirs, des großen Ram-Tempels in Ayodhya, genau an der Stelle, wo am 6. Dezember 1992 ein hindufanatischer Mob die antike Babri-Masjeed-Moschee zerstört hatte - an der mutmaßlichen Geburtsstätte des Hindu-Gottes Ram.
Das Vorhaben ist nicht neu, sondern war stets Bestandteil von Wahlprogrammen der BJP. Premier Atal Behari Vajpayee hatte es einst selbst versprochen. Aber seit er im Oktober 1999 als Führer einer 24-Parteien-Koalition mit einer moderat-liberalen Regierungserklärung die Macht übernahm, lag der Mandir auf Eis. Der Welt-Hindu-Rat fühlte sich betrogen und kündigte einen Tempelkampf "bis zum bitteren Ende" an. Er gab sich entschlossen, die Geschichte zu korrigieren und treulose Politiker zu strafen.
Bau des Tempels
Genau am 15. März soll nun der Bau des Mandir beginnen, sei es mit Unterstützung der Regierung oder im Kampf gegen sie. Während Premier Vajpayee das Gleichgewicht in der Koalition zu halten und die Führer des VHP zur Vernunft bringen will, unterstützt der rechte BJP-Flügel die Mandir-Bewegung nach Kräften.
Zu Tausenden sind die Hindu-Aktivisten aus allen Regionen Indiens nach Ayodhya geströmt, wo inzwischen 10.000 Soldaten das Herzstück des umstrittenen Terrains gegen Übergriffe verteidigen. Laut höchsten Gerichtsurteilen muss der Status Quo des Gebietes gewahrt bleiben, solange noch gerichtlich zu klären ist, ob hier überhaupt einmal ein Tempel oder vielmehr eine Moschee oder keines von beiden stehen wird. Doch die hochmotivierten Tempelkämpfer lassen sich nicht durch Formalitäten verunsichern. Sie sind Männer, die ihre Arbeit für den Tempel verlassen haben, Greise mit langen weißen Bärten, die beschwerliche, mehrtägige Reisen hinter sich brachten, Studenten, die ihr Jahresexamen ausfallen ließen, Hausfrauen, die für Ram sterben wollen. Sie kommen aus allen indischen Staaten, aus allen Kasten, aus allen sozialen Schichten. Sie teilen das Essen, Schlafplätze, religiöse Leidenschaft - das große Ziel. Diese verschworene Gemeinschaft übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Sie singen laut und zelebrieren Rituale, legen feierliche religiöse Eide ab und bereiten sich darauf vor, die seit langem heimlich von Hunderten Rajastanischer Kunsthandwerker fertiggestellten Säulen, Skulpturen und Trägerteile an diesem 15. März mit heiligem Hauruck zum Mandir zusammenzusetzen.
Premier Vajpayee kann in der jetzigen Situation - Ironie der Geschichte - General Musharrafs Stiefel anziehen. Er sieht sich, ganz wie der pakistanische Regierungschef, vor die Wahl gestellt, den Fundamentalisten - hier sind es hinduistische, dort islamische - ohne Rücksicht auf alte Vertraulichkeiten die kalte Klinge des Gesetzes an den Hals zu setzen oder in ihrem Strudel unterzugehen. In Delhi wie Islamabad haben die Fundamentalisten den Steigbügel zur Macht gehalten und drohen zu stürzen, wem sie aufs Pferd geholfen haben. Die BJP könnte in dieser Lage einfach mit einem letzten Seufzer mittendurch reißen, und wenn nicht sie, dann die Regierungskoalition.
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